Nordsee:Strandgut

Person standing at angry beach in Winter

Die Nordsee ist nicht nur im Sommer schön, auch im Winter hat sie viel zu bieten. Wolken und Lichtstimmungen wechseln schnell und verleihen der Landschaft eine ganz eigene Atmosphäre. Als Wanderer im Watt sollte man jedoch auf der Hut sein vor der nächsten Flut.

(Foto: Getty Images)

Wer im Winter durchs Watt von Föhr nach Amrum wandert, taucht ein in eine eigene Welt. Sie ist stürmisch. Und offenbart, wenn der Wanderer etwas Glück hat, im Sand halb versunkene Schiffswracks.

Von Oliver Abraham

Der Wind zerrt an den Kapuzen. Kälte prickelt im Gesicht und der Blick verliert sich in einer seltsamen, schaurig-schönen Leere. Und dann dies: Holzspanten, mit Muscheln und Tang bewachsen, ragen aus dem Meeresboden. Wellen schwappen an die Trümmer. "Das sind die Überreste der City of Bedford!", ruft Dark Blome in den Wind. Ganz sicher geklärt sei ihre Geschichte zwar nicht, sagt der Nationalpark-Wattführer, aber sie sei wohl auf dem Weg von England nach Skandinavien gewesen und dabei im Februar 1825 in einen schweren Orkan geraten. Das Schiff ging hier, zwischen Föhr und Amrum, auf Grund und war verloren. "Drei Menschen liegen begraben auf dem Friedhof von Süderende auf Föhr", sagt Blome.

Er führt Gruppen zwischen Amrum und Föhr oder andersherum durch das Watt, auch jetzt im Winter, wenn das Wetter noch widriger ist, die Nordsee noch wilder. Dann, wenn die Geschichten von versunkenen Schiffen seltsam lebendig werden. Zwischen den Inseln liegt eine verwirrende Welt aus See und Sandbänken. Drei Stunden winterliches Wattwandern in brusthohen, wasserdichten Anglerhosen. Die Wattwanderer haben ihre Freude an dieser Tour, früher kämpften hier draußen Menschen um ihr Leben.

Die Gewässer vor Amrum gehören zu den gefährlichsten an der Nordseeküste; tückisch für jene, die unversehens hineingerieten. Hunderte Schiffe sollen im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen sein. In diesem Jahr jährt sich eines der größten Schiffsunglücke an der deutschen Nordseeküste zum zwanzigsten Mal: Im Oktober 1998 strandete der brennende Holzfrachter Pallas vor Amrum.

"Wir gehen mindestens zweieinhalb Stunden vor Niedrigwasser auf Föhr los", hatte Blome erklärt, "damit wir den Priel nach Amrum queren können." Die Nordsee hat sich weit nach Westen zurückgezogen, kommt aber bald mit zwei Meter hoher Flut zurück. Sicher ist man hier nur mit einem kundigen Führer.

Der Weg führt weiter durch einen Irrgarten aus Sandbänken und Wasser. Der Meeresboden verändert sich ständig. Vor einem Gezeitenstrom, den wir nun passieren müssen, bittet Blome die Gruppe, stehen zu bleiben; er geht voran, testet Tiefe und Beschaffenheit des Untergrundes. Längst neigt sich die Sonne dem Horizont entgegen, diffuses Licht breitet sich aus und das düstere Blau der Dämmerung flutet über das Wattenmeer. So, wie die Nordsee, die sich jetzt mit voller Kraft und Rückenwind ihr Reich wiederholt.

Aus den auf Sand gelaufenen Schiffen haben sich die Bewohner Brauchbares geholt

Wir haben es an das sichere Ufer von Amrum geschafft. Viele andere nicht. Wer Wracks sehen will, ist mit der City of Bedford am besten bedient. Denn die anderen sieht man nicht. Sie liegen unter dem Sand. "Draußen in der Nordsee wandern die Sandbänke unablässig, manche von ihnen tauchen dauerhaft aus der See auf und sind bis zu 30 Meter pro Jahr ostwärts unterwegs", erzählt Blome, "und auch der mächtige Kniepsand vor Amrum gehört eigentlich nicht zu Insel, er ist nur auf sie aufgelaufen." Davor und darunter, da liegen sie, die Zeugen der wilden und bewegten Seefahrtgeschichte Amrums. Von ihnen muss man sich erzählen lassen.

Clas Broder Hansen kennt viele Geschichten von untergegangenen Schiffen vor Amrum. Der Autor und Schifffahrtshistoriker lebt, wenn nicht in Hamburg, dann in einem alten, kleinen Ziegelsteinhäuschen unter dem Amrumer Leuchtturm. Versteckt in den Dünen und geschützt vor der Gewalt der See. "Das Wrack der Pallas sieht man bei gutem Wetter von Amrum aus noch heute", sagt Hansen. "Ein anderes Schiff, die Pella, liegt längst im Mahlsand versunken. Dieser Erz-Frachter strandete 1964 nach einer Irrfahrt auf einer Sandbank und zerbrach."

Schiffbruch, so Hansen, gehörte früher zum Alltag vor der Küste Amrums, selbst Schiffe mit Maschinenantrieb waren vor Strandung und Untergang nicht sicher. "Die Westküste von Schleswig-Holstein und des dänischen Jütlands gilt unter Seefahrern als eine der gefährlichsten Europas!" Über den Untergang der Pella hat er ein Buch geschrieben. "Ich war ein kleiner Junge, zehn Jahre alt, und mein Vater ist damals mit einem befreundeten Skipper raus zum Wrack gefahren. Die haben getan, was viele Amrumer früher taten - sie haben sich was geholt."

Hansen zeigt das Kinderschlafzimmer, darin eine Koje aus Mahagoni-Holz: "Die stammt aus einem abgewrackten Hochseefrachter." An der Wand hängt eine Laterne, sie ist von der Pella, ebenso das Bullauge. Die Wand ist mit alten Seekarten tapeziert, sie stammen ebenfalls von der Pella. Zurück in der Küche rollt Hansen eine aktuelle Seekarte aus, sie zeigt die Insel Amrum, einige Wracks sind markiert.

Auch jenes des U-Boots U 979. Hansen erzählt von der vielleicht verrücktesten Geschichte draußen auf dem Kniepsand. "Der Zweite Weltkrieg war zu Ende. Der Kapitän wollte nicht, dass sein Kriegsschiff in die Hände der Sieger fiel, und er wollte, dass seine Mannschaft nach Hause kommt. So nahm er Kurs auf Amrum. In der Nacht fuhr das U-Boot aufgetaucht am Kniepsand entlang. Plötzlich nahm die Wassertiefe rapide ab. U 979 lief auf Grund. Es liegt noch heute drei Kilometer südlich des Leuchtturms. "Plötzlich war das Symbol des Krieges schlechthin nur noch ein Kinderspielzeug", so Hansen. Ein Augenzeuge habe berichtet, dass der Kommandant des U-Boots Schokolade, Trockenmilch und Kaffee an die Inselbewohner verteilte. Lange sah man das U-Boot bei Ebbe, es liegt nicht weit von der Wasserlinie. Doch nun ist es unter dem Sand verborgen. "Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis es wieder auftaucht", sagt Hansen.

Der Weg führt am kommenden Tag durch die Dünen, der Wind jagt den Sand vorbei. Draußen bricht sich die See weiß und wütend über den Sandbänken. Mit dem Fernglas kann man die sprühende Gischt über dem Wrack der Pallas erkennen. Und irgendwo, gleich hier vorn, liegt U 979 verborgen im Sand. An Tagen wie diesen gehen sie unter, an Tagen wie diesen taucht wieder etwas auf.

Ganz früher war Strandgut ein fester Posten in der Versorgung der Inselbewohner, Kinder wie Clas bauten ihre Strandbuden daraus. Vor 40 Jahren gab es draußen auf dem Kniepsand ein kleines Hüttendorf, gebaut aus dem, was das Meer wieder hergab. Zwei Buden haben überdauert. Achim, ein Mann mit grauweißem Bart und braunem Gesicht, den man zufällig hier trifft, kennt das Hüttendorf noch von früher. Seit den Siebzigerjahren verbringt er seinen Urlaub auf Amrum. "Vor 40 Jahren standen hier draußen auf dem Kniepsand bestimmt an die 25 Strandbuden", erzählt er. Eine verschworene Sommergesellschaft seien die "Kniepianer" gewesen.

Die beiden letzten Buden stehen direkt am Inselrand. Ein paar Schippen Sand müssen weggeschaufelt werden, dann geht die Tür auf. Drinnen ist es klamm, doch heimelig. Netze und Taue hängen herum, eine Weinkiste aus Holz dient als Wandschrank. Rote Luftballons wippen im Windzug. Die Hütte hat manchen Orkan überlebt. Und viele Strandläufer fanden Schutz darin. Wer in den Hüttenbüchern der Bude blättert, findet unzählige Geschichten, die vom Aussitzen schlechten Wetters handeln. Achim packt den Rucksack, es wird dunkel. Das Unwetter ist vorübergezogen, die Silhouette des einsamen Strandläufers verliert sich in der Dämmerung, Schritte stapfen ins Wasser, das der Sturm weit auf das Vorland getrieben hat.

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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