Theaterpremiere "Panikherz":Satz, Halbsatz, Pointe, Pointe

Irre erfolgreich, essgestört und kokssüchtig: Die Autobiographie von Benjamin von Stuckrad-Barre war ein Bestseller. Die emotionale Wucht funktioniert auch auf der Theaterbühne, aber bitte ohne Nirvana auf Blasinstrumenten.

Von Juliane Liebert

Fotoprobe 'Panikherz' im Berliner Ensemble

Bei den Proben für "Panikherz" im Berliner Ensemble mit den vier Benjamin-Darstellern Nico Holonics (von links nach rechts), Carina Zichner, Laurence Rupp und Bettina Hoppe soll von Stuckrad-Barre geweint haben.

(Foto: dpa)

Die Aufführung von "Panikherz" wird umso besser, je schlechter es dem Helden geht. Den Helden eigentlich, denn es sind vier Benjamine auf der Bühne. Einer für jede Lebensphase, ein jugendlicher, ein nüchterner, ein druffer, ein oberschlauer. Oft alle zugleich. Der erste Benjamin, Bettina Hoppe in grünen Samthosen, macht einem dann erstmal kurz Sorgen, weil gleich der Anfang aufzeigt, wo das Grundproblem so einer Bühnenadoption von einem Stuckrad-Barre-Text liegt. Lässt sich das lässige, aber zielgerichtete Labern in Bühnensprache umsetzen?

Sie deklamiert also Beschwerden über Wälder und wieso Meere einfach besser sind: Satz, Halbsatz, Pointe, Pointe, und die Stuckdecken des Berliner Ensembles und der ganze Theaterpathos hauen sich mit voller Wucht auf diese Zeilen und nehmen ihnen das Beiläufige und die Selbstironie. Zeilen wie "Wenn du kochst dann haben sie dich", müssen genuschelt oder panisch geschrien werden, nicht deklamiert. Wer über den Eine-Welt-Laden seiner Eltern lästert, muss das entspannt tun.

Der zweite Benjamin (Carina Zichner) übernimmt, ganz ADHS-Hibbeln, beschwert sich seinerseits darüber, wie schlimm gediegen er aufgewachsen ist. Dann mischt sich der dritte Benjamin (Laurence Rupp) ein und betet seine Karriere runter, "Das Herumwurschteln in den Aurazonen berühmter Musiker". Es gibt eine Band, und, wie gesagt, desto mieser es den Helden geht (Bulimie, Drogensucht), umso mehr finden Inhalt und Form zueinander, umso mehr finden die Schauspieler in ihren Rhythmus.

Nirvana auf Blasinstrumenten gehört verboten

Sie säuseln die Verlockungen und Bedrohungen eines Buffets für einen Essgestörten, sie werden Spam-Nachrichten und Medikamentennamen und Beschwörungen, dazu spielt die Band Udo Lindenberg, Nirvana, Techno, Udo Lindenberg, Oasis, Udo Lindenberg und Udo Lindenberg. Kurzer Einschub: Es sollte verboten werden, Nirvana auf Blasinstrumenten zu spielen. Selbst, wenn es ironisch gemeint ist, Blasinstrumente und Nirvana sind Todeszone.

Aber zurück zu Inhalt und Form. Also, Benjamin wird erst erfolgreich und dann essgestört und drogensüchtig, und ab der Essstörung versteht man erst, warum man in dem Stück ist. Denn die Frage, die Panikherz ja schon immer aufwarf, ist: Warum sollte ich mich für das Kokainproblem von Benjamin von Stuckrad-Barre interessieren? Abgesehen vom reinen Voyeurismus? Hier interessiert es einen. Wirklich gutes Theater ist ja eines, dass etwas mit seinem Stoff anfangen kann. Klingt simpel, aber schon da scheitert es oft, weil viele Stücke nur für arbiträres Gehampel missbraucht werden. Da wird dann einfach das Repertoire des postdramatisch performativen Schnickschnacks durchexerziert, egal worum es konkret ging, und das war es dann. Wer Literatur, also auch dramatische Literatur, inszeniert, muss unbedingt den Text ernst nehmen. Lange Zeit war es Mode, das Performativitätsparadigma so absolut zu setzen, dass jeder Anflug von Größe durch Sprache auf der Bühne als reaktionär galt. Dabei geht nichts im Theater ohne emotionale Wucht.

Oliver Reese hat den Text ernstgenommen. Umso mehr die Benjamins leiden, umso existenzieller ihre Sorgen werden, umso fieser die Pointen, desto eindringlicher wird das Stück. Es ist eine Frage der Zeit und des Maßes. Der Rausch endet immer zu früh oder zu spät, man ist immer entweder zu betrunken oder nicht betrunken genug; der Kreislauf aus Entzug und Absturz, Entzug und Absturz beginnt, sich zu wiederholen, beschleunigt. Im Publikum schläft so im zweiten Drittel im dramatischsten Teil einer kurz ein; vielleicht war er aber auch nur erschöpft vom Lachen, er wacht nach zwanzig Minuten wieder auf und hat jetzt handlungstechnisch nichts verpasst. Benjamin Nummer Vier (Nico Holonics) bewirft sich mit Kokain

Eine Welt gegen die Welt

"Emotionale Wucht", das heißt nicht, dass Theater identifikatorisch wie ein Hollywoodfilm sein muss. Auch (scheinbar) unterkühlte Ästhetik, wie Brechts Verfremdung etwa, muss aber mit Wucht wirken können. Es geht also nicht in erster Linie um eine Emotionalisierung, wie man sie mit Filmmusik unterstützt. Sondern darum, eine Situation herzustellen, die hier und jetzt einzigartig ist. Eine Welt gegen die Welt. Etwas, das aber auch eingreift, in den Zuschauer hineingreift. Körperliche Präsenz, Konkretheit bei Künstlichkeit der Situation. Das gelingt den Schauspielern an diesem Abend.

Und auch das ist ein Grund, warum einen das Kokainproblem von Stuckrad-Barre durchaus interessieren kann: Die Person, der Typus Stuckrad-Barre, jener Oasis-hörende, gestreifte T-Shirts tragende Poptyp, den gab es ja nicht nur einmal, sondern Deutschlandweit einige tausende Male, einen in jeder Kleinstadt. Lauter kleine Barres also, insofern ist auch die Besetzung durch vier Schauspieler geglückt. Sie stehen für alle Benjamin von Stuckrad-Barres, die durch die Neunziger und Zweitausender trudelten in der Angst, ihr Leben zu vergeuden. Wars das schon? Kommt da noch was? Stuckrad-Barre soll geweint haben, als er bei den Proben zusah. Solange man einem Theaterstück über das eigene Leben zusehen und weinen kann, hat man am Ende wohl doch alles richtig gemacht.

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