Energiewende:Deutschland droht der nächste Strom-Engpass

Stromtrasse

Viele Hundert Kilometer neuer Stromautobahnen sind geplant, nach langer Diskussion mit Anwohnern. Jetzt könnten die Masten vielleicht noch einmal größer werden.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)
  • Gerade hat sich die Debatte um neue Trassen für Ökostrom von Nord nach Süd beruhigt, da droht wieder Ärger.
  • Für die ehrgeizigen Pläne einer neuen Koalition sind die neuen Netze jetzt schon zu klein.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Diesen Mittwoch läuft die Frist ab. Dann endet die Konsultation zum neuen "Szenariorahmen" für den Netzausbau. In Deutschland ist er Dreh- und Angelpunkt aller Pläne für neue Stromleitungen: Experten überlegen, wo im Jahr 2030 wie viel Strom gebraucht wird. Und wo er wie produziert werden könnte, durch Ökokraftwerke, durch Kohle und Gas. Doch der 121-seitige Entwurf ist schon überholt, noch ehe die letzten Einwände eingegangen sind: Sollte die neue Koalition nämlich zustande kommen, dann wollen Union und SPD die Energiewende noch einmal beschleunigen.

Bis 2030 sollen nun Windparks, Solaranlagen und Biogaskraftwerke 65 Prozent des deutschen Stromverbrauchs decken. "Der Ausbau der Erneuerbaren Energien muss deutlich erhöht werden", heißt es im Koalitionsvertrag, "auch um den zusätzlichen Strombedarf zur Erreichung der Klimaschutzziele im Verkehr, in Gebäuden und in der Industrie zu decken." Wenn Wärmepumpen und Elektroautos tatsächlich dem Klima nutzen sollen, müssen sie schließlich mit grüner Energie laufen.

Bislang gingen die Planer selbst unter den waghalsigsten Bedingungen, dem "Innovationsszenario", von einem Ökostrom-Anteil von höchstens 54,8 Prozent aus. Die Maßgabe dafür waren die Pläne der alten Regierung, sie wollte die erneuerbaren Energien auf 55 bis 60 Prozent steigern. Das aber auch langsamer, nicht bis 2030, sondern bis 2035.

Ein höheres Ökostrom-Ziel macht manche Leitung zu klein, bevor sie gebaut ist

Deutschlands vier große Netzfirmen stürzt die Beschleunigung und die Leistungssteigerung ins nächste große Problem. Gerade erst haben sich die Widerstände gegen neue Stromautobahnen gelegt. Seit die größten Leitungen - vulgo "Monstertrassen" - nicht mehr an Masten das Land queren, sondern im Erdreich vergraben werden sollen, ist der Ton ruhiger geworden. Stattdessen dürfen nun Landwirte auf Zusatzeinnahmen aus der Verpachtung von Land für die Trassen hoffen, der Koalitionsvertrag erlaubt das. Längst laufen bei Tennet, 50 Hertz, Transnet-BW und Amprion die Planungen für Leitungen wie den Südlink und Südostlink, gibt es öffentliche Antragskonferenzen. Bis zum Jahr 2025 sollen die neuen Verbindungen fertig sein. Doch ein höheres Ökostrom-Ziel macht jetzt schon manche Leitung zu klein, bevor sie gebaut ist, das könnte neue Widerstände provozieren. "Das Thema ist kitzlig", raunt ein Netzmanager.

Andere, wie der ostdeutsche Netzbetreiber 50 Hertz, gehen schon in die Offensive. "Wir werden darüber nachdenken müssen, ob wir bei der einen oder anderen ohnehin geplanten Leitung nicht gleich eine etwas höhere Leistung vorsehen sollten", sagt Firmenchef Boris Schucht. "Die zusätzlichen Eingriffe in die Landschaft wären nicht allzu groß, da reden wir dann über wenige Meter zusätzliche Breite." Besser sei es, rechtzeitig entsprechend umzuplanen, als später teuer neu zu bauen.

Wenn man schon mal baut, dann richtig

Das Unternehmen arbeitet derzeit unter anderem am Südostlink, einer knapp 600 Kilometer langen Verbindung zwischen dem Raum Magdeburg und Niederbayern. Mit zwei Gigawatt Leistung kann das Erdkabel so viel Strom transportieren, wie zwei Atomkraftwerke erzeugen. Nur entspräche das neue Ziel der Bundesregierung nach Berechnungen von Experten einem Plus, das rund zehn AKW entspricht. Und das will transportiert werden. "Wenn man irgendwo einen Graben offen hat, sollte man gleich ein zweites Kabel reinlegen", empfiehlt auch Patrick Graichen, Chef des Berliner Thinktanks Agora Energiewende.

Wenn man schon mal baut, dann richtig: Den Netzbetreibern droht damit das Schicksal so mancher öffentlicher Bauherren. Nachträgliche Umplanungen könnten die Zeitpläne erneut ins Rutschen bringen. Dabei sollten die neuen Stromautobahnen ursprünglich bereits 2022 fertig sein, wenn die letzten deutschen Atomkraftwerke ihren Dienst einstellen.

Allerdings ist es mit größeren Leitungen allein auch nicht getan. "Es ist wichtig, einen überdimensionierten Leitungsbau durch modernste Technologien und regionale Steuerung der Erneuerbaren zu minimieren", sagt etwa Jochen Homann, der Chef der Bonner Bundesnetzagentur. Regionale Steuerung und mehr Intelligenz im Netz - beides ist schon im Gespräch. So erlaubt es die Digitalisierung, Angebot und Nachfrage besser in Einklang zu bringen und die bestehenden Leitungen besser auszunutzen.

Umweltschützer befürchte eine Kehrtwende

Schon jetzt gilt das sogenannte Nova-Prinzip, die Abkürzung steht für "Netz-Optimierung vor Ausbau". Dazu zählt auch, die bestehenden Netze bei kühler Witterung stärker auszulasten - dann können sie mehr Strom transportieren, ohne zu heiß zu werden. Auch die neue Koalition hat sich die regionale Steuerung vorgenommen. So sollen gezielt neue Wind- und Solarparks im Süden des Landes entstehen. Das würde den Transportbedarf zumindest etwas verringern. Den ergiebigsten Windstrom allerdings liefern nach wie vor die Parks zur See und im flachen Norddeutschland, dort wird der Strom aber eher selten gebraucht. "Jeder zusätzliche Ausbau der Erneuerbaren erfordert eine entsprechende Anpassung der Infrastruktur", sagt Homann. Zustimmen wolle seine Behörde aber nur solchen Leitungen, "die auch in jedem Fall erforderlich sind".

Schon fürchten Umweltschützer, die Sache könnte andersherum laufen. "Die Gefahr besteht, dass man am Ende den Ausbau drosselt, weil das Netz nicht reicht", warnt Henrik Maatsch, Energieexperte der Umweltstiftung WWF. Dabei sei ein Ökostrom-Anteil von 65 Prozent für den Klimaschutz das Mindeste.

Tatsächlich finde sich ein Hintertürchen für das Regierungsziel auch im Koalitionsvertrag, der einen "netzsynchronen" Ausbau verlangt. Auch die Sonderausschreibungen, die den Bau neuer Wind- und Solarparks in den nächsten zwei Jahren ankurbeln sollen, stehen unter Vorbehalt: Die Voraussetzung, steht da zu lesen, "ist die Aufnahmefähigkeit der entsprechenden Netze".

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