04. April 2009:Vergesst es!

Lesezeit: 2 min

Kann der Einsturz des Kölner Stadtarchivs als befreiender Gedächtnisverlust wirken? Wird Physik zum exotischen Wahlfach? SZ-Leser diskutieren.

"Mit einer Mischung aus Befremden und Amüsement habe ich die Stimmen aus der Künstlerwelt zum Einsturz des Kölner Stadtarchivs vernommen ("Der wertvollste Dreckhaufen der Welt", 27.März). Dass nur der, der über die Vergangenheit Bescheid weiß, die Gegenwart verstehen und die Zukunft erahnen kann, ist ein Allgemeinplatz, der auch durch häufige Wiederholung nicht falsch wird. Also muss es einer Gesellschaft um ihr Gedächtnis zu tun sein, und dieses Gedächtnis manifestiert sich in Archiven. Die Vernichtung des Kölner Archivs ist tragisch, weil zwei Menschen dabei umkamen, weil sie gewaltige Aufwendungen an Arbeit und Geld nach sich zieht und weil sie ein Schlag gegen das historische Gedächtnis ist. Aber ist denn wirklich jeder Gedächtnisverlust eine Tragödie?

In der Diskussion: Ist der Traum von ewiger Dauer Illusion? (Foto: Foto: ddp)

Viel war in den vergangenen Wochen von historischen Unikaten die Rede, Stadtgeschichten, Ratsprotokollen aus ferner Zeit, unersetzliche Zeugnisse einer der ältesten Stadtgeschichten der Welt. Doch immer mehr - und das ist natürlich, denn meist siegen die Lebenden über die Toten - drängen sich die Zeitgenossen in die Diskussion und beklagen den Verlust ihres Nachlasses zu Lebzeiten. Die Süddeutsche Zeitung hat ihnen eine Klagemauer geboten: Verzweiflung, Tränen und Wut angesichts der Briefe und Fragmente, die in einer Baugrube untergegangen sind.

Ein Komponist bekundet, nur durch seine Notizen sei der innere Zusammenhang zwischen seinen (selbstverständlich gedruckten) Werken herzustellen. Wäre es nicht schön, man könnte sie auch so genießen? Einer Schriftstellerin, die schon vorsorglich ihre Tochter als Nachlassverwalterin ausgerufen hat, ist der "Humus" genommen, aus dem möglicherweise künftige Werke hätten entstehen können. Das ist arg. Aber wie war gleich der Name? Dann, immer wieder bemüht, der versunkene Nachlass von Heinrich Böll.

Böll? Ist das nicht der Typ, der diese stinklangweiligen Romane geschrieben hat, die bis heute in jeder Buchhandlung Regalmeter verschlucken, obwohl sie keiner mehr lesen will? Das, was von ihm nicht gedruckt wurde, hätte sicher ein herrliches Beschäftigungsprogramm für Germanisten abgegeben - und man seufzt erleichtert auf beim Gedanken an die Dissertationen, die nun darüber nicht geschrieben werden. Es ist notwendig, dass Künstler sich selbst als Nabel der Welt begreifen, eine Voraussetzung ihrer von allen Seiten gefährdeten Existenz. Aber als Rest der Welt muss man diese Einschätzung nicht immer teilen.

Der große Romanist Harald Weinrich hat in seinem "Lethe"-Buch für eine Kultur und für Strategien des Vergessens plädiert. Klar, dass er damit keinen Archiveinsturz meinte. Trotzdem lohnt es sich, seine Gedanken zum "Oblivionismus" noch einmal nachzulesen, dem notwendigen Vergessen, ohne das Wissenschaft im Zeitalter der Informationsinflation gar nicht mehr möglich ist. Gedächtnisverlust kann auch befreiend sein.

Auch wenn er geplant und kalkuliert stattfinden sollte, nicht desaströs wie in Köln. Jorge Luis Borges, der Bibliothekar von Buenos Aires, wusste, dass das Gedächtnis allgegenwärtig, das "allgemeine Vergessen" aber ebenso Teil der menschlichen Natur war. Zeitungs- und Theaterleute sind abgebrühter im Umgang mit der Vergänglichkeit. Wen interessiert die Zeitung von gestern oder eine Theateraufführung, wenn der Vorhang gefallen ist? Den Traum von ewiger Dauer träumen Künstler seit Jahrtausenden. Man kann es verstehen, aber in den meisten Fällen ist es eine charmante Spielart des Größenwahns."

Georg Holzer, Dramaturg Bayerisches Staatsschauspiel München

Exotisches Fach Physik

"Zumindest aus Bayern dürfte kaum Nachschub an Physikern zu erwarten sein (,,Wirtschaft klagt über Mangel an Physikern'', 28./29. März), wegen Sparmaßnahmen können in der G-8-Oberstufe viele Fächer nicht unterrichtet werden. Am naturwissenschaftlichen Gymnasium meines Sohnes wird voraussichtlich nur Biologie als Naturwissenschaft in der Oberstufe unterrichtet werden.

Ist ja auch nicht weiter schlimm: Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle sagte kürzlich, es sei ,,schließlich kein Drama, wenn so exotische Fächer wie Physik in der Oberstufe nicht angeboten werden''. Da wollen wir mal hoffen, dass die Technischen Universitäten das auch so sehen. Wenn nicht, können unsere Abiturienten ja statt Physik oder Maschinenbau jederzeit Theologie studieren, denn mit Religion als Pflichtfach bis zum Abitur sind sie darauf bestens vorbereitet."

Uta Matl München

© SZ vom 04.04.2009/sus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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