"Seven Seconds" bei Netflix:Die Wahrheit ist selten schwarz oder weiß

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Während ihr Sohn Brenton im Krankenhaus im Koma liegt, versucht Latrice Butler (Regina King) herauszufinden, was eigentlich passiert ist.

(Foto: Cara Howe / Netflix)

In "Seven Seconds" überfährt ein weißer Polizist aus Versehen einen schwarzen Jungen und flieht. Ist es rassistisch einen Unfall zu vertuschen, um nicht als Rassist dazustehen?

Von Alexandra Belopolsky

Es ist Winter. Ein Polizist fährt eilig zu seiner Frau in die Entbindungsstation. Auf dem verschneiten Weg zur Klinik überfährt er einen Jungen. Seine Kollegen überreden ihn vor Ort, seine Schuld zu vertuschen. Aus einem Unfall wird ein Verbrechen - das immer größer wird.

Im Film Der Major aus dem Jahr 2013 zeichnete der russische Regisseur Yurij Bykow diese Geschichte als einen Kampf zwischen Gut und Böse: Auf der einen Seite die Normalbüger, auf der anderen eine durch und durch korrupte Polizei, die allein sich selbst beschützt. In der Serie Seven Seconds, die auf dem Film basiert, wird der Fall dagegen zu einem komplexen Gemälde in vielen Grautönen - obwohl der rücksichtslose Polizist weiß ist und der verunglückte Junge schwarz.

Eigentlich ist Pete Jablonski (Beau Knapp) ein ehrenhafter Beamter. Nicht einmal eine kostenlose Tasse Kaffee will er im Dienst annehmen - aus ethischen Gründen. So hat er es an der Polizeiakademie gelernt. Es sind nur sieben Sekunden, in denen er nicht auf die Straße achtet, dann hat er ein Fahrrad unter seinem Wagen. Er ruft seine Kollegen sofort, das Opfer selbst anzuschauen traut er sich nicht. "Für diese Scheiße werden sie dich kreuzigen", sagt sein Kollege Mike DiAngelo (David Lyons), nachdem er den übel zugerichteten schwarzen Jungen am Straßenrand gesehen hat. "Dafür werden wir alle bezahlen müssen". DiAngelos Rat folgend, flieht Jablonski vom Unfallort.

Erst am folgenden Tag, als der 15-jährige Brenton Butler gefunden wird, versteht Jablonski, welche Folgen die Sache hat. Auf einmal wird klar: Der Fall ist hochpolitisch. Nach Trayvon Martin, nach Michael Brown, nach Tamir Rice wird niemand mehr glauben, dass die Entscheidung des Polizisten nicht rassistisch motiviert war. Wie der puertorikanische Polizist Felix Osorio (Raul Castillo) später sagt: "Es gibt keine Scheißunfälle mehr."

Die Einfühlsamkeit der Serie erinnert eher ans britische als ans amerikanische Fernsehen

Als Jablonski und seine Kollegen wegfuhren, glaubten sie, Brenton sei tot. Sie lagen falsch. Die Kollision wird nachträglich vom Unfall zum rassistisch motivierten Verbrechen. Denn wäre Brenton Butler weiß, wäre DiAngelo vermutlich nicht auf die Idee gekommen, Jablonskis Schuld zu vertuschen. Vermutlich hätte er sofort einen Krankenwagen geholt. Vermutlich wäre Brenton dann nicht in ein Koma gefallen. Vermutlich hilft aber nichts.

Ist es rassistisch, überhaupt auf den Gedanken zu kommen, dass andere die Tat für rassistisch halten könnten? Ist jemand ein Rassist, wenn er den Anschein von Rassismus dort vermeiden will, wo in Wahrheit gar keiner vorhanden ist? Seven Seconds liefert, zumindest in den ersten Folgen, keine einfache Antworten. Es wäre leicht gewesen, den Zuschauern an dieser Stelle mit der Moralkeule zu kommen. Seven Seconds tut es nicht. Stattdessen baut die Serie mit einer Einfühlsamkeit, die häufig eher ans britische als ans amerikanische Fernsehen erinnert, komplexe, vielschichtige Figuren auf, die mit diesen Fragen genauso kämpfen, wie die Zuschauer.

Die Polizisten des South District in New Jersey sind harte Typen. Verdächtigen gegenüber überschreiten sie ständig die Grenze zur Gewalt. Dabei sind die meisten von ihnen keine Gewalttäter, und keiner schlägt zu Hause Frau und Kind. Sie missbrauchen ihre Macht aus Frust und Hilflosigkeit gegenüber den Drogengangs, die ganze Viertel kontrollieren.

Nichts zeigt das besser als DiAngelos verzweifelter Versuch, nach einer Razzia, bei der er einen schwarzen Drogendealer zusammengeschlagen hat, ein dort gefundenes schwarzes Baby wiederzubeleben. Die unschuldigen Opfer der Polizeigewalt sind Kollateralschäden des vergeblichen Kampfes der Beamten gegen arrogante Gangster, die die Polizei zum Gespött machen - manchmal auch buchstäblich.

Die Gangster des South District sind überwiegend schwarz. Brentons Onkel, der Berufssoldat Seth (Zackary Momoh), ist entsetzt, als die Ermittler die Theorie entwickeln, Brenton könnte in einer Gang gewesen sein. Doch eine Tätowierung auf Seths Handgelenk zeigt, dass der Gedanke vielleicht doch nicht so weit hergeholt ist. Wenn Brenton das gleiche Fahrrad hat, das eine Gang zu ihrem Erkennungszeichen machte - ist es dann rassistisch, darüber nachzudenken, ob es eine Gangmitgliedschaft gab, die mit seinem Tod zu tun hatte? Und macht es einen Unterschied, ob diese Erwägungen von einem weißen Ermittler oder von der schwarzen Staatsanwältin stammen?

Solche und viele weitere Fragen sind es, die Seven Seconds Tiefe und Glaubwürdigkeit verleihen. Anstatt politische Fragen plakativ abzuhandeln, bietet die Serie immer wieder komplexe, vielfältige Perspektiven. Sie macht es weder den Zuschauern noch sich selbst leicht - eindeutige Antworten gibt es nicht. Wie in der echten Welt ist die Wahrheit selten schwarz oder weiß.

Seven Seconds, auf Netflix.

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