Retrokolumne:Ungezählte Akolyten

Jeder Ton, den die alten Pop-Helden einst spielten, wird von ihren plötzlich zahlreichen Priestern über die Maßen gerühmt - leider selten zu Recht. Mit dem Album "Miles Davis & John Coltrane - The Final Tour 1960" verhält es sich anders. Ganz anders.

Von Karl Bruckmaier

Als die Götter noch unter uns weilten, ist es oft genug vorgekommen, dass sie unerkannt geblieben sind. Dass man sie für unseresgleichen gehalten hat. He, Alter, spiel schneller, spiel langsamer, spiel schöner. Doch dann sind sie von uns gegangen, und spätestens mit ihrem Verschwinden hat ein Remmi und ein Demmi eingesetzt, das vor allem vergessen machen soll, wie schäbig wir sie behandelt haben, als wir noch dieselbe Luft atmen durften wie sie. Jeder Ton, den sie einst spielten, wird von ihren plötzlich zahlreichen Priestern über die Maßen gerühmt und schließlich heiliggesprochen und ihr Andenken von ungezählten Akolyten mit Schaum vor dem Mund bewacht. Jedes Schallplattenalbum, an dem sie beteiligt gewesen sind, erscheint uns heute wie eine von Moses höchstpersönlich vom Sinai herabgeschleppte Offenbarung. Jeder irgendwo auffindbare Ton wird zur Vinyl-Oblate, die durch geschickte Verpackung und seitenlange Litaneien gut dotierter Lobhudler in ein neu zu entdeckendes Meisterwerk transsubstanziiert. Und je dicker die CD-Box des wundertätigen Musikanten, desto verehrungswürdiger und unverzichtbarer muss die darin abgelegte Musik-Reliquie sein. Selten ließ sich ein Gottesbeweis besser vermarkten. Einige wenige der Großen haben ihre Nachlassverwaltung schon zu Lebzeiten in die Hand genommen, haben gewissermaßen mit dem Ablass bereits gehandelt, als der Abgang noch bevorgestanden hat. Frank Zappa mit seiner "You Can't Do That On Stage Anymore"-Reihe war vielleicht der erste, Bob Dylan mit seiner Bootleg-Serie ist der konsequenteste, und am traurigsten erging es Jimi Hendrix, dessen schmales Lebenswerk schon durch Live-Alben und Studioabfälle geschändet wurde, als sein Körper noch nicht kalt war. Denn erst ein abwesender, pardon: verwesender Gott ist ein guter Gott; er widerspricht nicht, macht keine Zicken, nimmt keine Drogen mehr und keine Anwälte. Und bleibt auf immer jung. Miles Davis als Jupitergestalt des Jazz wird selbstverständlich auf ähnliche Weise permanent exhumiert und herumgereicht; gern mischt man sich im wahrsten Wortsinn in seine Meisterwerke ein und dröselt in fetten und im Endeffekt unanhörbaren Box-Sets auf, was einst von seiner und Teo Maceros Hand zusammengefügt worden ist - so, als würde man einen Erkenntnisgewinn erzielen, wenn man die Farbe von einem Vermeer schabt und in kleinen Kästchen anordnet und ausstellt: Seht, so hat er seine Wunder gewirkt. . .

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Etwas anders verhält es sich mit Konzerten, die ja speziell im Jazz ein eigener Schöpfungsakt sein können. Trotzdem war ich doch mehr als skeptisch, als mit "Miles Davis & John Coltrane - The Final Tour 1960" (Columbia) angekündigt wurde: Was sollten diese Halbgötter im Smoking uns denn noch mitzuteilen haben, was wir nicht schon lange wüssten? Nun, als erstes verlangen diese fünf kurzen Konzerte uns einen Abstraktionsschritt ab, der nicht so einfach zu tun ist. Wir müssen nämlich vergessen, was wir wissen, müssen als unvertraut erleben, was uns Proseminar geworden ist. Wir müssen Miles Davis hier neu hören, als hätten wir ihn noch nie gehört. Gerade hebt er an, tatsächlich als Über-Miles hörbar und sichtbar zu werden. "Kind of Blue" ist soeben erschienen, gewissermaßen der dritte Schöpfungstag im Buche Davis. Mit nach Europa bringt er noch die Vergangenheit, die alten Standardmelodien wie "All of You" oder die harten Bopper wie "Walkin'", doch sie kontrastieren aufs schärfste mit "All Blues" und "So What", harmonisch, melodisch, kompositorisch Neuland, unerhört. Noch nicht vermessen. Mit nach Europa bringt er einen missmutigen John Coltrane, der mit jedem Ton, den er spielt, zu fragen scheint: Warum kann ich nicht sein wie er? Nach dieser Tor-tour wird er das Ensemble um Miles Davis für immer verlassen. Hier kotzt er sich nachgerade aus. Die erwähnten Akolyten ringen seit 1960 um Worte, die Misstöne und brötzigen Unverschämtheiten zu erklären, zu verklären, die Coltrane hier ablässt, unwillig, bei seinen Soli ein Ende zu finden, mit frechem Gestus hineinfurzend in die schöne, neue Miles-Welt. Und dann tut sich der Himmel auf: Während die Rhythmusgruppe angenervt weiterpumpt, ergreift von Konzert zu Konzert mehr Wynton Kelly am Klavier die Initiative, versöhnt, vereint, brilliert bis wir beim Stockholm-Gig meinen dürfen, es spiele hier schon Keith Jarrett, während der andere Chefgott am Bühnenrand noch etwas dazu herumnörgelt auf seiner Trompete, innerlich damit beschäftigt, diesen Coltrane zu verprügeln. Fast nebenbei hören wir auch wie Vergangenheit, etwa in Gestalt von "Green Dolphin Street" abtreten muss, wie das von Miles Davis skizzierte Jazz-Paradies - denn dies war und ist es - in unserer grauen Welt des Jahres 1960 materialisiert. Ein Wunder. Kunst ist uns geboren. Aus plumpem Streit und erhabener Kunstfertigkeit. Muss man dann doch aufstellen auf unseren Altären

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