Prantls Blick:Viel Krach im Haus Europa

Prantls Blick: Flaggen der EU-Mitgliedsstaaten im Europa-Gebäude in Brüssel.

Flaggen der EU-Mitgliedsstaaten im Europa-Gebäude in Brüssel.

(Foto: AFP)

Am kommenden Freitag ist in Brüssel Wohnungseigentümer-Versammlung. Ausbau oder Rückbau? Das ist die Frage.

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Meinung der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.

Vom "Haus Europa" wird in der kommenden Woche wieder viel die Rede sein. In Brüssel treffen sich am Freitag die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union; und insgeheim werden sie sich fragen, ob sie eigentlich gerade beim Aufbau oder beim Rückbau dieses Europäischen Hauses sind. Es ist dies ein sehr großes Haus mit vielen Räumen, vielen Türen und vielen Arten von Menschen; dieses Haus bewahrt die europäische Vielfalt und den Reichtum, der sich aus dieser Vielfalt ergibt.

Streit über das Gemeinschaftseigentum, Gefetze über das Sondereigentum

Es gibt viel Streit in diesem Haus; wer selbst in einer zerstrittenen Wohnungseigentümergemeinschaft lebt, der weiß, wie es da zugeht. Da fetzt man sich über den Zustand des Gemeinschaftseigentums und den Zustand des Sondereigentums, da wird über die Hausordnung und deren Nicht-Einhaltung lamentiert; darüber, ob man einen neuen Aufzug braucht und ob auch die Bewohner der untersten Stockwerke ihn mitbezahlen müssen; und darüber, warum die Wasserenthärtung nicht richtig funktioniert. Der EU-Gipfel am kommenden Freitag ist also eine Art Wohnungseigentümerversammlung; etliche Wohnungseigentümer sind auf Krawall gebürstet, sie rücken mit ihren Anwälten an. Die Eigentümer der größten Wohnungen, Frankreich und Deutschland also, und die Europäische Kommission als Verwalter, sehen sich vor der Aufgabe, wieder Frieden und Gemeinschaftsgeist in den Laden zu kriegen.

Offiziell geredet wird in Brüssel darüber, ob die Rücklagen erhöht werden müssen - es geht um die Finanzausstattung der EU im kommenden Jahrzehnt, also um die Folgen des Austritts von Großbritannien. Inoffiziell und eigentlich geht es ums Große und Ganze. Es geht darum, wie man weitermacht, ob und wie lebensfähig die Gemeinschaft eigentlich noch ist; es geht darum, ob Emmanuel Macron und die neue Regierung von Angela Merkel die Kraft haben, Europa zu befrieden und zu begeistern; es geht darum, die nationalistische Welle, die über Europa rollt, zu stoppen und die europäische Idee wieder strahlen zu lassen. 2019 ist die nächste Wahl zum Europäischen Parlament.

Europa ist eine Rechtsgemeinschaft, also ein Staat

Was betreten wir eigentlich, wenn wir das Haus Europa betreten? Eine Wohnanlage? Ein Bienenhaus für Menschen? Ein Gebilde ganz eigener Art? Einen Staat? Ich war immer der Meinung, dass es sich um einen Staat handelt - weil ein Staat nicht irgendein metaphysisches Geschwurbel ist und auch kein nationalistisches Gebilde; ein Staat ist eine Rechtsgemeinschaft. Ein Gemeinwesen, das eine Rechtsordnung hat, ist ein Staat. Der Staat steht nicht vor und nicht über und nicht neben der Rechtsordnung. Der Staat ist die Rechtsordnung. Wenn und solange das Haus Europa also ein Raum des Rechts ist, ist dieses Europa ein Staat.

Mitglieds-Nationalstaaten wie Ungarn oder Polen, die das EU-Recht ausdrücklich, dauerhaft und nachhaltig missachten, entfernen sich aus dieser Rechtsgemeinschaft, sie stellen sich selbst ex lex. Das führt zur Stornierung und zum Entzug der Mitgliedschaftsrechte. Der Staat ist die Rechtsordnung - also ist Europa ein Staat: Ich bin da vom großen österreichisch-amerikanischen Rechtsgelehrten Hans Kelsen beeinflusst, der nach dem Ersten Weltkrieg in Wien und in Köln lehrte, dann vor den Nazis in die USA floh. Er war Schöpfer der österreichischen Verfassung, er hat die moderne Verfassungsgerichtsbarkeit begründet und die "Reine Rechtslehre". Er hat seine pluralistische Staats- und Rechtstheorie konzipiert vor dem Hintergrund des ethnisch, sprachlich, kulturell und religiös so heterogenen Gemeinwesens der 1918 untergegangenen Habsburger-Monarchie.

Hans Kelsen, ein Gründervater Europas

Dieser Hans Kelsen also stand ganz am Beginn meines Rechtsstudiums - weil ich, euphorisiert von den ersten Wochen der Juristerei, ins rechtsphilosophische Seminar gelaufen bin und mich dort auch bald in die Prüfung wagte: Zu interpretieren war ein Text, den ich damals nicht zu- und einordnen konnte, den ich auch kaum verstand. Es war, wie ich später lernte, eine Passage aus der Reinen Rechtslehre; und über die Bemerkungen, die der Korrektor zu meinen Darlegungen machte, schweige ich heute lieber.

Aber es war dies der etwas unrühmliche Beginn einer beglückenden Beschäftigung mit Kelsen. Recht und Staat werden durch Rechtsprozeduren hergestellt. Dieses Prozedurale ist in der Europäischen Union besonders ausgeprägt. Insofern darf man sagen, dass Kelsen das System der EU erst ermöglicht hat. Kelsen selber schrieb einmal dazu: "Es mag sein, dass ich zu dieser Anschauung nicht zuletzt dadurch gekommen bin, dass der Staat, der mir am nächsten lag, und den ich aus persönlicher Erfahrung am besten kannte, der österreichische Staat, offenbar nur eine Rechtseinheit war. Angesichts des österreichischen Staates, der sich aus so vielen nach Rasse, Sprache, Religion und Geschichte verschiedenen Gruppen zusammensetzt, erwiesen sich Theorien, die die Einheit des Staates auf irgendeinen sozial-psychologischen oder sozial-biologischen Zusammenhang der juristisch zum Staat gehörigen Menschen zu gründen versuchten, offensichtlich als Fiktionen."

Der Staat als Rechtsgemeinschaft und die Nation als kulturell-ethnisch vorgestellte Gemeinschaft werden bei Kelsen entkoppelt. Der Staat ist eine Rechtsgemeinschaft. Europa ist eine Rechtsgemeinschaft. So schlicht, so einfach, so richtig - und so zukunftsweisend.

Hitler und die Quadratur des zerstörten Kreises

"Ich war Europas letzte Chance" - so hat es Adolf Hitler vor seinem Ende im Bunker gesagt. Es war eine dämonische "Chance". Hitler hat auch das zerschlagen und zerstört, was vom alten Europa nach dem Ersten Weltkrieg noch übrig geblieben war, er hat die Weltgeltung Europas und dessen politischen und kulturellen Anspruch schauerlich verspielt. Was dann nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa geschah, ist mit dem Wort Wunder nur unzulänglich beschrieben.

Das "europäische Kleinstaatengerümpel", wie Hitler es verächtlich bezeichnet hatte, tat sich zusammen, es schuf miteinander Recht, es überwand so den Nationalismus und uralte Feindschaften. Die Europäische Gemeinschaft, die Europäische Union entstand. Die Geschichte der EU ist eine Geschichte der Quadratur des zerstörten Kreises. Sie ist die "Geschichte der Sinngebung des Sinnlosen"; so heißt das Werk des zu Unrecht vergessenen Philosophen Theodor Lessing, der vor 85 Jahren von Nazi-Attentätern in Marienbad erschossen wurde. Diese EU ist der letzte Sinn einer verworrenen europäischen Geschichte.

Es ist leider schwer, dieses so Große im politischen Alltag, auf den Wohnungseigentümerversammlungen, zu spüren. Wir haben verlernt, das Wunder zu sehen. Wir müssen es wieder lernen. Europa ist ein Wunder. Das Europäische Haus ist ja nicht irgendeine 0/8/15-Wohnanlage, es ist nicht irgendein Trump-Tower. Es ist der Höhepunkt der europäischen Historie. Dieses Europa der Europäischen Union ist das Beste, was den Europäern in ihrer langen Geschichte passiert ist. Dieses Europäische Haus ist, wenn es gut wird, die Heimat Europa.

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