Wahl in Ungarn:So hat Viktor Orbán Ungarn verändert

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(Foto: dpa; Bearbeitung SZ)

Seit 2010 regiert der Populist in Ungarn unangefochten. Unter ihm wurde das Land reicher, korrupter - und EU-skeptischer. Neun Grafiken erklären Orbáns Bilanz.

Von Matthias Kolb

Viktor Orbán hat geschafft, was nur wenigen europäischen Politikern gelingt. Sein Name wird quasi als Synonym für sein Heimatland gebraucht. Deutschland, das ist im Rest der Welt Angela Merkel. Russland, das ist Wladimir Putin. Und wer an Ungarn denkt, der hat den 54 Jahre alten Premierminister vor Augen. EU-weit hat Orbán eine Bekanntheit erreicht, die größer ist als es sein Herkunftsland mit 9,8 Millionen Einwohnern vermuten ließe.

Für die Agentur Bloomberg ist er "Europas Bad Boy", die New York Times nennt ihn einen "widerspenstigen Außenseiter" und sieht in ihm die "größte Herausforderung für die EU". Seit seinem Wahlsieg 2010 hat der nationalkonservative sein Land umgebaut, damals erhielt seine Fidesz-Partei 52,7 Prozent der Stimmen.

Wenige Tage vor der Parlamentswahl liegt Fidesz in Umfragen klar vorne, doch Ereignisse wie der Sieg eines Oppositionskandidaten bei der Bürgermeisterwahl in einer südungarischen Kleinstadt verdeutlichen den wachsenden Unmut mit dem System Orbán und der Korruption.

Die Grafik zeigt, wie dominant die Fidesz-Partei ist. Bei der Wahl 2014 erhielt sie 44,9 Prozent und lag klar vor den Sozialdemokraten (MSZP, 25,6 Prozent) und der einst rechtsradikalen Jobbik-Partei (20,2 Prozent). Die grün-zentristische LMP kam auf 5,3 Prozent. Klar zu sehen ist auch: Die Popularität von Orbáns Partei fiel in Frühjahr und Sommer 2015 unter 40 Prozent. Dann kam die Flüchtlingskrise und der Premier entschied sich, Merkels Gegenspieler zu werden. Dies zahlte sich politisch aus.

Seit mehr als zwei Jahren fordert Orbán, dass sich Europa gegen die "Invasion der Flüchtlinge" wehren müsse und stilisiert sich zum Verteidiger christlicher Werte. Auf diese Angstmacherei setzt er auch im laufenden Wahlkampf. Dieser knapp einminütige Clip aus seiner Rede zum Nationalfeiertag am 15. März zeigt den Kern von Orbáns Kampagne: Die "Massenzuwanderung" bedrohe all das, was Ungarn ausmache, er werde die christliche Lebensweise verteidigen.

Typisch sind die Attacken auf EU-Bürokraten und auf George Soros. Dem ungarischstämmigen US-Milliardär wirft Orbán vor, er wolle mit seinem "Soros-Plan" Europa mit Millionen illegaler Migranten überfluten und so den Kontinent zerstören. Diese Art von Argumentation erklärt, warum Politikwissenschaftler wie Jan Werner Müller Ungarns Premier als Vorzeigepopulisten bezeichnen. Die Wahlkämpfe in Österreich, Deutschland oder Italien legen nahe: Orbáns Rhetorik wird von vielen kopiert und verändert so die Debattenkultur in Europa.

Orbán gibt stets vor, genau zu wissen, wer zu den echten Ungarn gehöre. In der Formel "Nur wir sind das Volk" steckt das Ausschließende. Orbán will auch wissen, was sie sich wünschen. Er setze nur um, was sein Volk wolle, rechtfertigt er sich oft. Allerdings merken Kritiker an, dass die Staatsmedien sehr einseitig über muslimische Flüchtlinge und sehr viel über Terrorgefahr berichten. Sogar in Schulbüchern - etwa für den Geschichtsunterricht der achten Klasse - wird Orbán zitiert, etwa mit dem Satz: "Es kann problematisch sein, wenn verschiedene Kulturen zusammenleben." Wer hier wem was einredet, scheint offensichtlich.

Kai-Olaf Lang von der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) wirft die Frage auf, ob der Fokus auf das Flüchtlingsthema und das "Soros-Imperium" zu eng war und ob die Orbán-Strategen sich damit verkalkuliert haben. 2010 und 2014 seien die Fidesz-Wahlkämpfe breiter aufgestellt gewesen. "Vor vier Jahren ging es etwa noch um soziale Themen wie die Deckelung der Wohnnebenkosten. Davon ist heute kaum noch die Rede", sagt der Mitteleuropa-Experte. Dies wundert nicht: Wer seit acht Jahren alleine regiert, kann nicht mehr alle Verantwortung abschieben.

Experten beobachten mit Sorge, wie der ungarische Rechtsstaat ausgehöhlt wird. So darf das Verfassungsgericht Gesetze nur noch formal prüfen, aber nicht auf ihren Inhalt hin. Echte Pressefreiheit existiert auch nicht mehr. Seit seinem Wahlsieg 2010 hat Orbán die Medien gleichgeschaltet und kritische Stimmen wie die Zeitung Népszabadság mundtot gemacht. Das geht so weit, dass selbst die staatliche Medienbehörde ein "Ungleichgewicht" in den TV-Nachrichten feststellt, wie Stephan Ostvath in seinem Buch "Puszta-Populismus" schreibt. Auch die Denkfabrik Freedom House hat Ungarn herabgestuft.

Immer lauter wurden im Wahlkampf die Klagen über die weit verbreitete Korruption in Ungarn - und die Tatsache, dass eine kleine Elite immer mehr Reichtümer anhäuft. "Trotz der umfassenden Medienkontrolle von Fidesz lassen sich die Meldungen über Korruptionsskandale nicht unterdrücken", sagt Kai-Olaf Lang von der SWP. Einer Analyse der Nachrichtenagentur Reuters zufolge haben jene Firmen, die von zehn bestimmten Geschäftsmännern kontrolliert werden, seit 2010 öffentliche Ausschreibungen im Wert von mehr als sechs Milliarden Euro gewonnen.

Zu den zehn Männern gehört neben Orbáns altem Schulfreund Lörinc Mészáros (Spitzname "Strohmann") auch sein Schwiegersohn Istvan Tiborcz. Ihm gehörten etwa Anteile an der Firma Elios, die regelwidrig in ungarischen Gemeinden neue Straßenbeleuchtung anbringen sollte. Der erste Auftrag dazu wurde in der früheren Fidesz-Hochburg Hódmezövásárhely vergeben - in jener Stadt, die Ende Februar sensationell einen Oppositionellen zum Bürgermeister wählte. Nun fordert die EU-Antibetrugsbehörde Olaf 43 Millionen Euro an Fördergeldern von Budapest zurück.

Wie weit Ungarn im europaweiten Vergleich vorne liegt, zeigen weitere Daten von Olaf. Wegen des Verdachts auf Betrug sollen 4,16 Prozent der Subventionen zurückbezahlt werden, die Ungarn seit 2012 erhalten hat. Von der Slowakei und Rumänien fordert Olaf nur 2,55 beziehungsweise 0,68 Prozent zurück, während die Werte für Westeuropa selten 0,1 Prozent übersteigen (PDF). Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International sinkt der Wert für Ungarn: Von Platz 48 im Jahr 2014 fiel das Land zuletzt auf Platz 66. Innerhalb der EU wird nur Bulgarien von Beobachtern als korrupter eingeschätzt.

Während Korruption und Klientelismus die Unzufriedenheit der Ungarn steigen lassen, gibt es weiterhin ein Gefühl der Verunsicherung und der Furcht im Zusammenhang mit Migration. Daher beschreibt SWP-Experte Lang die aktuelle Stimmung als "wachsende Verdrossenheit ohne Wechselstimmung". Die Opposition sei weiterhin wenig überzeugend und vielköpfig. Er rechnet daher am Ende mit einem "Arbeitssieg mit einigen Blessuren für Orbán und Fidesz, aber nicht mit einem triumphalen Erfolg." Glaubwürdige Anti-Fidesz-Kandidaten könnten in einer ganzen Reihe von Wahlkreisen siegen, aber die Orbán-Partei dürfte zum dritten Mal in Folge gewinnen, sagt Lang.

Die ungarische Wirtschaft hat sich seit 2010 gut entwickelt, die Härten und Wachstumsverluste der globalen Finanzkrise wurden der Vorgängerregierung angelastet. Seit 2013 ist die Arbeitslosenquote von 12 Prozent auf nur noch vier Prozent gefallen und die Wirtschaft wächst überdurchschnittlich. Laut Eurobarometer sagen aber 44 Prozent der Ungarn, dass es ihnen persönlich schlecht geht. Die europaweit höchste Mehrwertsteuer von 27 Prozent trifft die ärmeren Bürger sehr hart; gleichzeitig ist die Körperschaftsteuer für Unternehmen die niedrigste aller 28 EU-Mitglieder.

Durch seinen Konfrontationskurs beeinflusst Orbán mittlerweile seit Jahren die innereuropäischen Debatten. Der EU-Kommission und den westeuropäischen Staaten wirft er gerne vor, die Ost- und Mitteleuropäer zu bevormunden. Unstrittig st aber: Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten profitiert Ungarn enorm vom 2004 vollzogenen EU-Beitritt. Bis Ende 2016 erhielt das mitteleuropäische Land etwa 48 Milliarden Euro aus Brüssel, Budapest zahlt laut Deutsch-Ungarischer Handelskammer nur knapp zwölf Milliarden ein. Ungarn gehört zu den größten Netto-Empfängern aller EU-Staaten und wird dies bis mindestens 2020 bleiben.

Dass gerade viele Deutsche die fehlende Solidarität Ungarns und Polens in der Flüchtlingsfrage als undankbar empfinden, spielt in der laufenden Debatte um den nächsten EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027 eine Rolle. Hier steht im Raum, die europäische Werteordnung und den EU-Haushalt zu verknüpfen und Mitgliedsländer für rechtsstaatliche Defizite zu bestrafen. Dagegen regt sich Widerstand. Denn die Brüsseler Milliarden helfen Orbáns Regierung enorm dabei, in Infrastruktur zu investieren, deutschen Autokonzernen Steuernachlässe zu geben oder Renten nicht kürzen zu müssen.

Daher hilft die EU indirekt so ihren Gegnern, sagt der bulgarische Politologe Ivan Krastev. "Bisher sind die ausländischen Firmen nicht abgewandert, weil sie der EU vertrauen. Daher spüren die Wähler nicht die potenziell schädlichen Folgen der Politik ihrer Regierung, die EU-Mittel fließen weiterhin", sagt er.

In einer Hinsicht sind sich Warschau und Budapest jedoch uneins: Die Polen sehen Wladimir Putin als Bedrohung, während Orbán engste Kontakte zum Kreml-Chef pflegt. Manche Kritiker sprechen schon davon, dass Russland den ungarischen Staat mit Wirtschaftsdeals gekapert habe. Seit der nationalkonservative Premier dort regiert, hat Putin Ungarn sieben Mal besucht. Orbán war auch der erste EU-Regierungschef, der Russlands Präsidenten nach der Krim-Annexion empfing. Dass Budapest kürzlich wegen des Giftanschlags in Großbritannien einen russischen Diplomaten auswies, überraschte viele. Doch eine grundlegende Kurskorrektur ist nicht zu erwarten.

Einige wichtige Akteure vermeiden bisher jegliche Kritik: die großen ausländischen Investoren. Drei der vier größten Firmen des Landes sind Töchter von deutschen Automobilkonzernen: Audi Hungaria, Bosch-Csoport und Mercedes-Benz Hungary. Ganz vorne steht das Mineralöl-Unternehmen MOL. Gerade die Industriekonzerne schätzen die gut ausgebildeten Arbeiter, niedrige Lohnstückkosten sowie relativ schwache Gewerkschaften - und laden Premier Orbán gerne ein, wenn in Györ oder Kecskemét neue Werke eröffnet werden.

Dass längst nicht alle Ungarn zufrieden sind mit ihrer Situation, zeigen auch die Auswanderer. Wegen der in der EU geltenden Freizügigkeit sind eindeutige Daten schwer zu bekommen, aber Eurostat zufolge lebten Anfang 2016 rund 410 000 Ungarn im Ausland (ohne Frankreich und Spanien). Die Zahl der Ungarn, die sich in Österreich gemeldet haben, stieg von 17 500 im Jahr 2007 auf 70 500 zehn Jahre später.

Bemerkenswert ist eine Studie des Statistikers Irén Gödri vom Ungarischen Institut für Demografieforschung. Demnach träumt jeder dritte Ungar im Alter zwischen 14 und 40 davon, im Ausland zu leben. Dies wären 680 000 Menschen. Laut Gödri haben bereits 370 000 junge und mittelalte Ungarn konkrete Pläne zur Auswanderung gefasst.

Wie junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren über ihre Heimat und die Zukunft denken, haben 2017 die Bertelsmann-Stiftung und das australische Institute of Public Affairs in sechs Staaten über Europa erfragt. Die Daten aus Ungarn geben ein gemischtes Bild ab und lassen erahnen, dass der EU-Skeptiker Orbàn auch bei ihnen Spuren hinterlassen hat.

Der Studie zufolge ist in der jüngeren Generation ein "wachsendes Desinteresse an Politik" zu beobachten. Auch das Engagement sei gering. Nur 60 Prozent überlegen, überhaupt an Wahlen teilzunehmen und nennen mangelndes Vertrauen in Politiker als Hauptgrund. Das Misstrauen gegenüber Fremden ist unter jungen Ungarn groß: 72 Prozent sagen, dass ihr Land Flüchtlinge nicht aufnehmen sollte, nur ein gutes Viertel will helfen. Und nur knapp jeder Zweite ist davon überzeugt, dass die Demokratie das beste politische System sei.

Diese Grundüberzeugung, dass Demokratie unbedingt zu verteidigen sei, liegt in den Vergleichsländern Deutschland und Österreich mit 71 Prozent viel höher. Die Studie liefert aber auch genug Beispiele, dass junge Europäer über die Landesgrenzen hinweg ähnlich denken: Umweltschutz und Klimawandel sind den Ungarn zwischen 15 und 24 sehr wichtig, und etwa bei der Homo-Ehe sind sie erstaunlich tolerant.

Über die EU-Mitgliedschaft äußern sich die jungen Ungarn überraschend positiv: 79 Prozent sehen Vorteile. Allerdings wünschen sich zwei Drittel eine grundlegende Reform der Europäischen Union. Die Diskussionen, wie diese aussehen sollte, werden auch in den kommenden Jahren weitergehen - unabhängig davon, wie lange Viktor Orbán noch das Land regiert.

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