Lernen aus der NS-Vergangenheit:Beharrlicher Zeitzeuge

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Abba Naor hat das Ghetto in Kaunas, Zwangsarbeit und Haft in Konzentrationslagern überlebt. Als einer der letzten Schoah-Überlebenden kämpft er gegen das Vergessen. Nun wird er 90 Jahre alt

Von Helmut Zeller, München/Rehovot

Abba Naor ist 17, als er in einer überfüllten Straßenbahn durch das ausgebombte München fährt, und Rache nimmt. Vor den anderen Fahrgästen verspeist er ganz langsam eine Tafel amerikanischer Schokolade. Ein unerreichbarer Schatz für die meisten Münchner in diesem Jahr 1945. Manchmal wirft er vor dem gierigen Blick eines Deutschen eine nur angerauchte Zigarette auf den Boden und zertritt sie. Die kindliche, unschuldige Rache eines Jungen, dem die Deutschen alles genommen haben, seine Mutter Chana und den sechsjährigen Berale. Seinen Bruder Chaim erschossen litauische Nationalisten schon 1941 in Kaunas. Er war 14, als er Brot ins Ghetto schmuggeln wollte. Der Vater ist verschollen.

Viele Stunden verbringt Abba Naor im Luitpold-Kino, schaut sich den immer gleichen Film mit Rita Hayworth an. Mit Uri Chanoch und Solly Ganor, Freunden aus Kaunas, treibt er sich in Schwabing, im Englischen Garten herum und geht in Restaurants. Die Kellner bedienen sie gerne: Denn die drei stecken ihnen Zigaretten zu, die stabilste Währung auf dem Schwarzmarkt. Abba Naor spürt den Hass auf die Juden - nur trauen sich die Deutschen jetzt nicht mehr, ihn auszudrücken. Von mehr als 10 000 Münchner Juden vor dem Krieg sind nur etwa 260 zurückgekehrt. Als Abba im Polizeirevier in der Ettstraße einem der Mörder von Kaunas begegnet, flüchtet er aus der einstigen "Hauptstadt der Bewegung". Auch sein Vater Hirsch, der überlebt hat und mit ihm wieder vereint ist, kann ihn nicht zurückhalten. Wie hätte Abba damals ahnen können, dass er mit München noch lange nicht fertig sein würde.

Als Kind musste Naor ins Ghetto seiner litauischen Heimatstadt Kaunas (Zweiter von rechts). (Foto: Privat)

Am 21. März feiert Abba Naor 90. Geburtstag - in München. Er ist gesund, nur die Knie schmerzen manchmal, und hin und wieder verdirbt er sich den Magen an fetten Bratwürsten, von denen er einfach nicht die Finger lassen kann. Zum Glück gibt es sie in Rehovot, seiner israelischen Heimatstadt, nicht. Aber während der fünf, sechs Monate, die er als Zeitzeuge jedes Jahr in Bayern verbringt, ist er der Versuchung ausgesetzt. Gutes Zureden hilft nicht, er kann ziemlich stur sein. Er hat überhaupt einen eigenen Kopf, und der ist fit geblieben und mit einem phänomenalen Gedächtnis ausgestattet. Das braucht er auch als Zeitzeuge, einer der letzten.

In Bayern und der Schweiz ist er weithin bekannt: durch Filme, Interviews im Fernsehen und Artikel in den Zeitungen. In der bayerischen Gedenkstättenstiftung vertritt er die Überlebenden der Schoah. 2017 folgte er dem verstorbenen Auschwitz-Überlebenden Max Mannheimer im Amt des Vizepräsidenten des Comité International de Dachau nach. Stiftungsdirektor Karl Freller (CSU) und Landtagspräsidentin Barbara Stamm (CSU) geben für Abba Naor ein Festbankett im Maximilianeum. Auch die Stadt Dachau und die KZ-Gedenkstätte feiern ihn. So viel Aufhebens um seine Person wehrt er mit seinem manchmal schon sarkastischen Humor ab. "Wollen sie mich jetzt noch töten? Das kann ein alter Mann doch gar nicht schaffen."

Aber es schmeichelt ihm. Und es sagt einiges über sein Verhältnis zu Deutschland aus, dass er diesen Tag nicht in Rehovot verbringt. Dann reisen seine Tochter und seine Enkeltochter Dana eben nach München - am liebsten würde er seine ganze große Familie zu einem Umzug bewegen. Das war nicht immer so. Als sein Vater eine Deutsche heiratete, brach Abba Naor mit ihm. Erst Jahre später, 1953, besuchte er die beiden in München. "Sie war ein Engel von einem Menschen", sagt er. Den Hass, den er einmal verspürte, hat er längst überwunden. 1965 kam er wieder - für lange 13 Jahre. Er wird Teilhaber des "Stop-In", der legendären Studentenkneipe in der Türkenstraße; das Café Annast am Hofgarten kommt dazu, dann noch das Lokal Ritter von Lohengrin. Der erfolgreiche Gastronom engagiert sich im Vorstand des TSV Maccabi und leitet die Basketball-Abteilung. Als seine Enkelin Dana 1977 im Kindergarten antisemitische Anfeindungen erfährt, packt die Familie die Koffer. Abba Naor verkauft seine Lokale mit großem Verlust - "was bedeutete schon Geld, wenn in Israel Dana auf mich wartete?" Vor zwei Jahren starb seine Frau Lea, die ihn immer nach München begleitet hatte. Am 7. November 1950 hatten sie geheiratet - er vermisst sie schrecklich.

"Sie dürfen nicht glauben", hat Abba Naor einmal vor Studenten der LMU München gesagt, "dass ich das bin". Denn fast erscheint er einem als routinierter Lehrer, wie er da mit historischen Fotos und Landkarten hantiert und über die Auslöschung der ehemals 240 000 Juden in Litauen spricht. Heute leben in dem Land 4000, die meisten sind eingewandert. Die wenigstens wissen, dass Abba Naor in seinem Hotelzimmer in den frühen Morgenstunden schon wach liegt: Die Erinnerung schmerzt wie eine offene Wunde. Der 16-jährige Abba kauert im Schutz einer Baracke auf dem Boden. Er sucht im fahlen Licht der Morgendämmerung in einer langen Kolonne von Frauen und Kindern, die das KZ Stutthof verlassen, seine Mutter. Dann sieht er sie. Die 39-jährige Chana trägt auf ihrem Arm den sechsjährigen Berale. Abba weiß, wohin sie gebracht werden. "Für einen Moment sehe ich noch ihren Kopf, dann ist sie verschwunden." Es ist der 26. Juli 1944. Gleich nach der Ankunft in Auschwitz-Birkenau werden sie vergast. "Es war der schwärzeste Tag in meinem Leben."

Abba Naor (Mitte) mit US-Vizepräsident Mike Pence zu Besuch in Dachau im Februar 2017. (Foto: Niels P. Joergensen)

Jeden Tag überlegt er aufs Neue, wie er den Schülern seine Lebenserfahrung nahe bringt: dass nichts mehr zählt als Würde und Freiheit des menschlichen Lebens. Das hat er leidvoll erfahren im Ghetto Kaunas, in den Konzentrationslagern Stutthof, Dachau, Utting und Kaufering IV. Dafür hat er gekämpft in der Hagana und im Unabhängigkeitskrieg 1948 als israelischer Soldat.

Sein schönstes Geburtstagsgeschenk hat er schon erhalten. Abba Naor blättert in einem dicken Buch mit Texten und vielen Fotos. Schüler des Otto-von-Taube-Gymnasiums in Gauting haben es für ihn gemacht. Vor zwölf Jahren hat er einen Schüleraustausch mit der Givat Brenner Regional High School bei Tel Aviv ins Leben gerufen. "Ihre Kinder", schreiben die Lehrer im Vorwort. "Ja, das sind sie", sagt Abba Naor.

Er tut das auch für Israel. "Wir sind ein kleines Land und brauchen Freunde." Das Land ist von Feinden umgeben, die nicht auf eine friedliche Lösung aus sind, sondern auf die Zerstörung des Staates Israels. Den Hardlinern, auch auf seiner Seite, sagt Abba Naor: "Kein Quadratmeter Boden ist das Leben eines Juden oder Arabers wert." In Deutschland sind Israelfeindlichkeit und Antisemitismus angewachsen. Daran trägt Abba Naor schwer. Er ist ein israelischer Patriot - und zugleich ein Münchner geworden, einer, den die Stadt heute mehr denn je braucht.

© SZ vom 21.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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