Schönheit:Holt euch euren Körper zurück!

Heißer Tag am Schwarzen Meer

Bin ich schön? Keine Ahnung - frag die Follower.

(Foto: dpa)

Das Selbstwertgefühl des modernen Menschen wird bestimmt von Influencern, Ernährungs-Gurus und Fitness-Trackern. Verlieren wir allmählich den Verstand?

Von Violetta Simon

Das Leben ist ein Wellnessbereich. Jedes zweite Hotel bezeichnet sich als Wohlfühl-Oase, Immobilienpreise bemessen sich am Wohlfühl-Faktor, selbst in Büros herrscht verordnete Wohlfühl-Atmosphäre. Dabei sind die meisten Menschen weit davon entfernt, sich in ihrer Haut wohlzufühlen. Oder überhaupt: sich zu fühlen. Immer mehr Menschen scheinen den Bezug zu ihrem eigenen Körper zu verlieren. Bereitwillig überlassen sie die Einschätzung von Gesundheit, Fitness, Gewicht, Körperbild modernen Hightech-Geräten. Digitalwaagen messen nicht nur das Gewicht, sondern gleich noch den Anteil an Unterhautfettgewebe. Fitnessarmbänder teilen ihnen mit, ob sie gut geschlafen und sich ausreichend bewegt haben.

Die Nutzer solcher Fitness-Tracker glauben, sie hätten damit alles unter Kontrolle. Dabei ist es umgekehrt. Wer das vorgegebene Ziel des Plastikarmbandes nicht erfüllt, hat ein Problem: Er nimmt seinen Körper vor allem als defizitär wahr.

"Sich mit Hightech-Geräten selbst zu vermessen, hat durchaus einen besonderen Reiz", erklärt Thomas Ellrott, Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie in Göttingen. "Man sieht Daten und Grafiken über sich selbst auf dem Display und habe noch dazu die Möglichkeit, Ergebnisse meiner digitale Selbstvermessung einfach im Netz zu posten." Heute 12.000 Schritte geschafft! Zudem erleben wir täglich, dass solche Geräte alles Mögliche besser können als wir, egal ob Routenplaner, Taschenrechner oder Terminverwaltung. Die Programme sind uns da haushoch überlegen. "Der Trugschluss ist allerdings, dass diese Geräte den Körper genauso exakt bewerten, wie sie etwa eine Reiseroute berechnen", sagt Ellrott. Dazu lägen viel zu wenige Informationen über Stoffwechsel, Gene, individuelle Risikofaktoren etc. vor.

Dennoch - oder gerade deshalb - ist das Vertrauen in diese Geräte immens. Kein Wunder: Sie beweisen uns täglich, dass sie alles Mögliche besser können als wir. Google Maps führt uns noch in der letzten Pampa ans Ziel, der Taschenrechner übernimmt das Umwandeln der prozentualen Gehaltserhöhung in Euro und Outlook behält unsere Termine im Auge.

Eine Instanz gibt es, der wir uns noch bereitwilliger anvertrauen: die sozialen Medien. Dank Instagram, Facebook &. Co beruht unser Selbstbild immer häufiger auf der Wahrnehmung anderer. Maßgeblich ist nicht, wie attraktiv, fit oder gesund man sich empfindet. Sondern wie glaubhaft und eindrucksvoll man dies - etwa durch Selfies oder Videos - seinem Umfeld vermittelt. Die Frage "Bin ich schön?" wird somit immer häufiger von einer anonymen, unüberschaubaren Community beantwortet, deren Normen von Meinungsführern, sogenannten Influencern, geprägt sind.

Social-Media-Trends und TV-Castingshows bestimmen mittlerweile maßgeblich, wie junge Menschen die eigene Figur wahrnehmen und bewerten, sagt der Medienwissenschaftler Christian Schwarzenegger. Der ständige Vergleich mit anderen, vermeintlich perfekten Menschen prägt nicht nur das eigene Schönheitsideal. Dahinter steht immer auch der Anspruch: Erst wenn ich geworden bin, was ich sein soll, darf ich mich wohlfühlen.

Die Flut permanenter Selbstdokumentation bringt ständig neue absurde Strömungen hervor, etwa Body-Challenges mit Schnappschüssen von Körperteilen. Da sieht man knochige Schlüsselbeine (#collarbonechallenge), hervorstehende Beckenknochen (#bikinibridge), eine Lücke zwischen Oberschenkeln (#thighgap) oder auch Taillen, die so schmal wie ein Din-A4-Blatt sind (#paperwaist). Statt sich selbst in den Arm zu nehmen, schlingen Mädchen ihn um die eigene Taille und versuchen, den Bauchnabel von hinten zu erwischen (#bellybutton). Nur dann können sie sicher sein: Sie sind schlank genug - und entsprechen somit einem völlig willkürlich erhobenen Schönheitsideal.

So viele perfekt inszenierte Körper - ganz zu schweigen von den Möglichkeiten, die Photoshop und Weichzeichner darüber hinaus bieten. Wie soll der durchschnittliche Körper da bestehen? Wie gelingt es, unter dem Druck ständiger Vergleiche und Vorgaben, sich selbst stolz und selbstbewusst zu betrachten. Statt durch die unerbittliche Brille der Crowd. Die Diskrepanz zwischen dem Ich und dem medienvermittelten Schönheitsideal dominiert das eigene Körperbild.​

Essen als Bedrohung

Einer Studie der Uni Köln zufolge setzen sich bereits präpubertäre Kinder intensiv mit ihrer Figur und ihrem Gewicht auseinander, jeder vierte Erwachsene zwischen 18 und 39 Jahren hat schon mehrfach Diäten versucht. Der Kampf ist eröffnet - es ist ein Kampf gegen sich selbst. Schlimmster Feind: Kalorien. Doch statt die Ernährung langfristig umzustellen und einfach weniger zu essen, mehr Sport zu machen, Schokolade und Chips zu meiden, werden aufwändigste Ernährungspläne fraglos übernommen. Der eigenen Kompetenz scheint hier niemand mehr zu trauen, seinem Gefühl erst recht nicht. Wikinger, Paleo, No Carb, Low Carb, Clean Eating, Metabolic Balance - drunter machen wir es nicht. Nie gab es so viele Ernährungsratgeber. Und zugleich so viele Übergewichtige.

Dabei seien 95 von 100 Büchern Unsinn, sagt Joachim Westenhöfer, Ernährungspsychologe und Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Da werde ein Prinzip wie zum Beispiel "keine Kohlenhydrate" oder "nur Fleisch" hervorgehoben und als ausschließliche Ernährungsweise empfohlen. Der Erfolg kommt zwar schnell, gerade beim Verzicht auf Kohlenhydrate. Doch er bleibt nur kurz.

Wissenschaftler beobachten, dass sich der urbane Mensch mehr denn je über sein Essverhalten definiert. Nicht nur aus Gründen der Nachhaltigkeit und Gesundheit. Sondern weil die Entscheidung, was wir essen - und vor allem, was nicht - ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt. "Essen bekommt zunehmend eine soziale Funktion" sagt Ernährungsexperte Ellrott. Was früher Familie und Religion boten, bietet heute ein bestimmter Ernährungsstil. Natürlich könne man auch der Freiwilligen Feuerwehr beitreten oder einem Sportverein. "Aber Essen eignet sich in digitalen Lebenswelten weit besser, weil man mehrmals täglich coole Essensbilder und Videos als digitale Trophäen in soziale Netzwerke versenden kann."

Die Normen, an denen sich der Mensch in seinem Umfeld orientiert, gelten auch für die Einstellung zum Essen, sagt Ernährungspsychologe Westenhöfer. "Wird man nur oft genug konfrontiert mit Diäten, macht man das mit - ohne kritisch zu hinterfragen, ob es sinnvoll ist". Durch diesen Einfluss werde das Selbstvertrauen in die eigene Körperwahrnehmung beeinträchtigt. Gerade in Großstädten manifestiert sich ein Essverhalten, das geprägt ist von Verboten und Verzicht. Viele Menschen seien aufgrund von Lebensmittelskandalen verunsichert und empfänden Essen zunehmend als Bedrohung. Statt sich zu fragen "Worauf habe ich Appetit?" geht es also vor allem um die Frage "Was schadet mir am wenigsten?" Dann sei die einfachste Lösung, vermeintlich schädliche Nahrungsmittel wie Fleisch oder alles, was Gluten oder Lactose enthält, einfach wegzulassen.

Entsprechend rapide nehmen gefühlte Allergien und eingebildete Unverträglichkeiten zu. Ärzte wissen, dass die meisten Menschen, die glutenfreie Lebensmittel einfordern, sie nicht brauchen. An Zöliakie, also der Unverträglichkeit von Gluten, das in Weizen und anderem Getreide vorhanden ist, leiden in Deutschland nur 0,9 Prozent. Ernährungsstudien zufolge vertragen die meisten Menschen in Deutschland auch Lactose sehr gut: Nach einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) haben etwa 80 Prozent der Konsumenten lactosefreier Produkte gar keine Milchzuckerunverträglichkeit. Dennoch hat sich der Anteil der Menschen, die angeben, Lactose nicht zu vertragen, in den vergangenen drei Jahren verdoppelt. Der Grund, so vermuten Experten: die erhöhte mediale Aufmerksamkeit.

Das Internet und seine Meinungsführer sagen uns also nicht nur, dass wir zu dick sind, wenn sich unsere Schenkel berühren. Sondern auch, dass Milchzucker böse ist. Leider vergessen die meisten, das zu überprüfen - und den gesunden Menschenverstand dazu zu benutzen. So wie die Frau, die mittags einen Salat isst, nach dem Essen gern noch einen Latte macchiato zu sich nimmt - und sich dann wundert, wenn das gärende Gemisch den Bauch bläht. Besorgtes Hineinhorchen, dann die Diagnose: Lactoseintoleranz, kein Zweifel. Höchste Zeit für die nächste Ernährungsumstellung.

Wir müssen wieder lernen, uns selbst zu vertrauen. Solange wir unser Selbstbild von Fitness-Trackern, -Gurus und -Influencern abhängig machen, haben wir weitaus mehr zu verlieren als ein paar Kilos: unseren gesunden Menschenverstand.

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