Biografien zum 200. Geburtstag:Karl Marx - Seiner Zeit weit voraus

Karl Marx

Karl Marx (1818 - 1883)

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Er hat Globalisierung und ungezügelten Finanzkapitalismus vorweggenommen - und war zu Lebzeiten immerzu krank und pleite. Neue Bücher erzählen farbig vom berühmten Ökonomen.

Rezension von Franziska Augstein

Wenn einer Frau nach vielen Ehejahren zu ihrem Mann nur mehr Wörter wie "Mistkerl" über die Lippen kommen, dann mag es ihr einfallen, ihn bloß verächtlich per Nachnamen zu titulieren.

Umgekehrt scheint es sich bei dem englischen Historiker Gareth Stedman Jones zu verhalten, der nach Jahrzehnten der Beschäftigung mit seinem Idol enttäuscht ist. Seine monumentale Marx-Biografie gräbt an den Fundamenten des Denkmals. Respektlos redet er konsequent von "Karl". Marx hat einfach zu viel Blödsinn verzapft, um seinem Nachnamen gerecht zu werden.

Bitterkeit zeugt von wahrer Liebe: Das macht Stedman Jones' Buch zu einer köstlich-lehrreichen Lektüre (Karl Marx, übersetzt von Thomas Atzert, Andreas Wirthensohn, S. Fischer Verlag). Dass Marx immerzu krank und pleite war, dass dieser an sich friedfertige und liebenswürdige Mann ein anmaßender, selbstmitleidiger, rachsüchtiger Widerling sein konnte, hat sich herumgesprochen. Aber das gilt für viele Große.

1844 kam Marx auf den Gedanken der Revolution

Stedman Jones erklärt ihn aus seinem zeitgenössischen intellektuellen Umfeld heraus und stellt fest, dass Marx einige Entwicklungen seiner Zeit nicht wahrgenommen habe, weil sie nicht zu seinen Theorien passten.

Zur Jugendzeit des 1818 Geborenen war sein Geburtsort Trier ein Armenhaus. Jeder vierte Einwohner der zu Preußen gehörenden Stadt war von Almosen und öffentlicher Fürsorge abhängig. In Preußens Hauptstadt Berlin arbeitete - die Polizei dürfte sie gezählt haben - in den 1830er-Jahren jede siebzehnte Frau als Prostituierte.

Das waren Umstände, die - von Hause besser gestellte - Studenten theoretisch einfangen wollten. Marx befasste sich intensiv mit Hegel und dem deutschen Idealismus sowie mit dem als gottlos verpönten Materialismus (der hatte angeblich zur Französischen Revolution und La Terreur geführt).

Marx' Ziel sei es gewesen, den Idealismus mit dem Materialismus zu versöhnen: nicht zu seinem Frommen, wie Stedman Jones meint, dessen brillante Argumentation hier nur angerissen werden kann.

Fälschlich werde dem Idealismus nachgesagt, weltfremd zu sein. Hegel hatte versucht, die Idee der Familie mit der Verfassung des (kurz nach Napoleons Untergang noch fortschrittlichen) preußischen Staates gedanklich zusammenzubringen. Daraus ergab sich seine Theorie der bürgerlichen Gesellschaft.

Aus Sicht der späteren Linkshegelianer (als Preußen repressiv regiert wurde) war Hegel aber nicht weit genug gegangen: Sie fanden, bei Hegel träfen sich Staat und Individuum in der Wertschätzung des Privateigentums, politische Mitbestimmung komme nicht zur Geltung. Der ansprüchliche Marx wollte freilich mehr; Mitbestimmung wäre bloß auf eine Korrektur hinausgelaufen.

Nein, Marx wollte Hegel komplett überwinden; 1844 kam er auf den Gedanken der Revolution. Er bramarbasierte von einem Gemeinwesen, in dem die Unterscheidung zwischen rationalem Staat und bürgerlicher Gesellschaft verschwinde. Das, so Stedman Jones, führte zu hanebüchenen Fehlurteilen.

Die repräsentative Demokratie hielt Marx für Mumpitz und das in diversen Staaten konzedierte Männer-Wahlrecht für eine Farce. Er hatte das Proletariat zur ausführenden Gewalt der revolutionären Entwicklung ausersehen, wobei es ihn nicht kümmerte, was die Arbeiter sich wünschten: "Karl gestattete seinen Arbeitern keine Individualität", schreibt Stedman Jones. Zwar war Marx immer ganz stolz, wenn er mal Arbeitern bei der Arbeit zuschauen konnte.

Gleichwohl waren sie aus seiner Sicht nur Vertreter eines "Gattungswesens", dessen historische Aufgabe es war, das Privateigentum zu überwinden. Als 1848 Pariser Arbeiter auf die Barrikaden gingen, notierte Marx: "Weltkrieg - das ist die Inhaltsanzeige des Jahres 1849."

Später optierte er für eine friedliche Revolution. Dass es vielen Arbeitern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besser ging, weil die Regierenden in Frankreich und den deutschen Landen weitere Revolutionsversuche vermeiden wollten, nahm er nicht zur Kenntnis.

Für seine Ehefrau war Marx "Schwarzwildchen", "Föxchen", und ein "großes Kind"

Stedman Jones hat auch manches Nette über Marx zu sagen, vor allem dieses: Weil "Das Kapital" mit vielen empirischen Daten aufwartet, sei Marx, ohne dass er selbst es geahnt hätte, als "Begründer der systematischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" zu ehren.

Ein Königreich kann manchmal so viel wert sein wie ein Pferd. In der Stunde seines Untergangs wünscht sich Shakespeares Richard III. ein Pferd. Ökonomisch gesehen, ist damit der Unterschied zwischen dem Tauschwert und dem Gebrauchswert der Ware "Pferd" beschrieben.

Der Gebrauchswert eines Pferdes ist in diesem Moment für Richard über alle Maßen groß. Der Tauschwert, wie viel ein Pferd kostet, war ihm egal. Beim Verfassen des "Kapital" kam Marx mit der Unterscheidung nicht mehr zurecht: Dieses Versäumnis wird ihm seit mehr als hundert Jahren angekreidet.

Jürgen Neffe ist das einerlei; in Marx' Schriften sucht er, was haltbar ist. Der Journalist erzählt farbig von Marxens bizarrem Privatleben, seinen Krankheiten, seinen Geldsorgen - und seiner Frau. Jenny nannte ihren Mann "Schwarzwildchen", "Föxchen", "Herzchen" und auch "mein großes Kind".

Dass sie trotz schlimmster Widrigkeiten zu Marx hielt, erklärt Neffe nach Lektüre aller Briefe so: "für beide befriedigender Sex". Außerdem war Jenny eine aufgeklärte Person, die ihres Mannes politische Ansichten teilte (Jürgen Neffe: Marx der Unvollendete, C. Bertelsmann 2017).

Neffe gibt zu: Die "Verelendungstheorie" war Quark. Sie ergab sich daraus, dass Marx - das zog er aus seiner Lektüre von Adam Smith und David Ricardo - der Auffassung war, dass nur die menschliche Arbeit etwas wert sei.

Je mehr Maschinen eingeführt würden, desto mehr würden Arbeiter überflüssig; gleichzeitig seien Maschinen aber "konstantes", gebundenes, letztlich nutzloses Kapital. Nur Arbeit von Menschenhand könne den Profit steigern. Je mehr Maschinen, desto näher der selbsterzeugte Untergang des Kapitalismus.

An diesem Punkt hakt Neffe ein: Die heutige Automatisierung, die auf schlecht ausgebildete Arbeiter zunehmend weniger angewiesen ist, möge für Unternehmen lukrativ sein - dies aber nur, solange die Konsumenten sich die von Robotern erzeugten Waren leisten können.

Die Kaufkraft von Arbeitslosen ist indes begrenzt. So wie in Marx' Jugend Religionsphilosophen erklärten, dass nicht Gott die Menschen, sondern die Menschen sich Gott erschaffen hätten, meinte Marx, dass Waren nicht mehr für den Menschen da seien, sondern der Mensch für Waren.

Neffe findet, dass die für das eigene Wohlbefinden nötigen Markenartikel Marxens Wort vom "Fetischcharakter" der Ware rechtfertigen: Der Mensch tritt zurück hinter künstlich erzeugten Konsumbedürfnissen.

Das Entscheidende, und das ist ein Effekt der Globalisierung, liegt laut Neffe darin, dass Marx recht hatte, als er im "Kapital" erklärte, warum der Mensch in der Geldwirtschaft machtlos wird. Kapitalismus basiert darauf, dass Leute dafür arbeiten, dass ihre Chefs den Mehrwert der Arbeit einstreichen.

Die aktuelle Debatte über wachsende Ungleichheit hätte Marx als Bestätigung seiner Thesen gesehen. Mehr noch: Eben weil Marx nicht so sehr seine Zeit betrachtete, sondern vielmehr theoretisch extrapolierte, habe er vorausgesehen, was sich heute erst zuträgt.

"Im zinstragenden Kapital" heißt es im dritten Band des "Kapital", "erreicht das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form. (....) Das Kapital erscheint als mysteriöse (....) Quelle des Zinses, seiner eignen Vermehrung."

Der Irrtum am Lebensende

Neffe ist entsetzt-begeistert: Marx hat die Perversitäten der heutigen Finanzmärkte vorweggenommen, auf denen mehr fiktives Geld bewegt wird, als auch nur ansatzweise durch reale Wertschöpfung gedeckt ist.

Marx wollte aus der philosophischen Theorie heraus gesellschaftliche Geschehnisse beschreiben, wobei er keine große Rücksicht auf gesellschaftlich-politische Veränderungen seiner Zeit nahm. Deshalb konnte er im "Kapital" nicht wirklich stimmig erklären, was es mit dem Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit und Produktionsverhältnissen auf sich habe. Deshalb war er als Prophet besser denn als Analytiker seiner Zeit.

Gareth Stedman Jones beendet seine Biografie mit einer schier unglaublichen Pointe: Wenige Jahre vor seinem Tod entdeckte Marx die russische Dorfgemeinschaft als Modell der Gerechtigkeit. Zwar täuschte er sich da: in russischen Dörfern herrschte keine Gerechtigkeit.

Sein späterer Meinungswechsel zeugt indes von geistiger Beweglichkeit: Er meinte nun, eine von dem städtischen Proletariat ausgehende Revolution sei nicht nötig; in Russland sei der direkte Übergang von der Dorfgemeinde zum Sozialismus möglich. Diese Meinung schmeckte weder seinem Freund Friedrich Engels noch anderen Sozialisten. Sie wurde totgeschwiegen.

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