München:Tränen und Bitterkraut

Der Sederabend ist der Auftakt zur jüdischen Pessach-Woche, die an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei erinnert. Dieses Jahr beginnt sie am 31. März. Ein Workshop bereitet Kinder und Erwachsene auf die Rituale vor

Von Ingolf Kramers Finger tropft dunkelrote Flüssigkeit, vorsichtig tupft er sie auf den Boden eines Tellers. Dann tunkt er den Finger ein weiteres Mal in den Becher, nimmt Flüssigkeit auf, tupft sie wieder ab. Tunken, tupfen, tunken, tupfen. Zehn Mal verspritzt er so Traubensaft, der beim Sederabend in den Räumen der Europäischen Janusz Korczak Akademie (EJKA), einer jüdischen Bildungseinrichtung an der Sonnenstraße, anstelle von Wein ausgeschenkt wird. Einen für jede Plage, die Gott als Strafe über die Ägypter gebracht hat.

Kramer ist eigentlich Atheist. Und ehe der Wahlmünchner vor fünf Jahren eine Jüdin geheiratet hat, wusste er nichts von dem Brauch mit dem Wein und den zehn Plagen. Überhaupt war ihm der Sederabend mit seinen ganzen Ritualen ein einziges Rätsel. "Beim ersten Mal kam ich mir vor wie ein Außerirdischer", sagt er. Kramer gegenüber sitzt seine Frau, sie lächelt milde. Ihr fünfjähriger Sohn Raphael Elias saust um die lange Tafel, an der an diesem Abend noch etliche andere Kinder mit ihren Eltern sitzen.

München: Eigentlich stellt beim Sederabend der Jüngste die Fragen, und die Erwachsenen beantworten sie. Beim Workshop an der Sonnenstraße wussten aber manche Kinder, im Bild Boris und Adam, viel mehr als ihre Eltern.

Eigentlich stellt beim Sederabend der Jüngste die Fragen, und die Erwachsenen beantworten sie. Beim Workshop an der Sonnenstraße wussten aber manche Kinder, im Bild Boris und Adam, viel mehr als ihre Eltern.

(Foto: Robert Haas)

Wie die Kramers wollen sie üben, wie man den Sederabend, also den Auftakt zur Pessach-Woche, richtig begeht. Das mehrtägige Fest beginnt dieses Jahr am 31. März und erinnert an die Befreiung des Volkes Israels aus der Sklaverei des Pharao vor über 3000 Jahren. "Heutzutage wissen viele gar nicht mehr, wie das gefeiert wird", sagt Sofia Malenboym von der EJKA. Und deshalb finde nun erstmals ein Workshop statt, bei dem der Ablauf des Sederabends eingeübt wird.

Zufällig passiert bei diesem gottesdienstähnlichen Mahl im Kreise der Familie nämlich gar nichts. Das Waschen der Hände, das Essen von Bitterkraut, das Tischgebet, alles hat seinen festen Platz in der Dramaturgie des Abends. "Seder bedeutet Ordnung", sagt Asaf Grünwald. Er steht am Kopf der langen Tafel und leitet den Workshop; und wenn er von der Flucht aus Ägypten erzählt, stehen die Bilder nahezu plastisch im Raum. Man sieht die Israeliten mit Mose in die Wüste ziehen, auf dem Weg ins gelobte Land, sieht, wie sie kurz vor dem Aufbruch noch rasch Brot backen. "Wasser, Mehl, zack, zack, so entsteht Mazza", erklärt Grünwald. Er lebt in Israel und leitet dort ein pädagogisches Zentrum, war aber viele Jahre als Religionslehrer in Frankfurt am Main tätig, und auch an der Sinai-Grundschule der Israelitischen Kultusgemeinde für München und Oberbayern hat er einige Zeit gearbeitet. Der Mann mit der Kippa hält die Haggada hoch. Ein Buch mit den Handlungsanweisungen zum Seder, aus dem wie im Hebräischen üblich von rechts nach links gelesen und gesungen wird. "Die Haggada nimmt uns mit nach Ägypten", sagt Grünwald. Und auf dieser Reise, da werde man nicht nur verstehen und sehen, sondern auch tatsächlich schmecken, wie bitter es damals war.

München: Alles hat seine Ordnung: Beim Ablauf des Sederabends bleibt nichts dem Zufall überlassen. Es gibt Eier, Mus, Meerrettich und Mazza, das ungesäuerte Brot.

Alles hat seine Ordnung: Beim Ablauf des Sederabends bleibt nichts dem Zufall überlassen. Es gibt Eier, Mus, Meerrettich und Mazza, das ungesäuerte Brot.

(Foto: Robert Haas)

Im Haus an der Sonnenstraße ist der Tisch feierlich gedeckt, mit gelben Tulpen und goldenen Bechern, dazwischen stehen Glasschalen mit Salzwasser und Platten mit den symbolischen Speisen: Eier, Salat (Grünwald: "Bitterkraut für Kinder"), Meerrettich, und - ein wenig kurios - ein Papierbild von einem Steakknochen liegen darauf. Auf einem Extrateller: stapelweise Mazza. Das Brot sieht aus wie ein großer Kräcker und es ist ungesäuert, weil Juden an Pessach nichts Gesäuertes essen dürfen - so viel weiß der Laie gerade noch. Doch was ist das für ein Mus? Und wozu ist bitteschön das Salzwasser gut? Boris, acht Jahre alt, taucht ein Stück gekochte Kartoffel in die Schale mit Salzwasser und schiebt es dann in den Mund. "Das Salzwasser erinnert uns an die Tränen der Juden", sagt er. Das weiß er noch aus dem jüdischen Kindergarten. Immer wieder reckt er zaghaft die Hand, wenn Grünwald etwas wissen möchte. Doch ein Junge, der bereits die fünfte Klasse besucht, ist meistens schneller. Die Knochen stünden für die Opfer der Juden. Und das süßliche Fruchtmus, das Charosset, so weiß er aus dem Effeff, stelle den Lehm dar, mit dem die Juden ihre Häuser gebaut haben.

Eigentlich fragt beim Sederabend der Jüngste in der Runde, weshalb dieser Abend denn nun ein besonderer sei. "Die Kinder stellen Fragen, die Erwachsenen antworten", erklärt Grünwald das Prinzip. Beim Workshop der Europäischen Janusz Korczalk Akademie ist die Verteilung der Aufgaben aber nicht ganz klar: So mancher Sprössling scheint seine Eltern locker in die Tasche zu stecken, wenn es um die Geschichte der Vorfahren geht.

Irina Milgrom zum Beispiel, die Mutter von Boris, hat in der Ostukraine, wo sie herkommt, nicht gelernt, wie genau so ein Sederabend abgehalten wird. Und in der Pessach-Woche äßen sie und ihr Mann Nudeln und Brot, obwohl das eigentlich nicht gestattet sei. Dennoch sind sie gerne zum Workshop der jüdischen Bildungseinrichtung gekommen. "Wir wollen, dass die Kinder die Tradition mitkriegen."

München: Foto: Robert Haas

Foto: Robert Haas

Ingolf Kramer fühlt sich schon lange nicht mehr wie "ein Außerirdischer" im Kreise der Juden. Er singt auf Hebräisch und bricht das Brot, als hätte er seiner Lebtag nichts anderes getan. "Es wird immer normaler, je länger man es macht", sagt er. Bis all die Regeln dann irgendwann zu einer schönen Tradition werden. Die zu leben finde er wichtig, gerade auch seines kleinen Sohnes wegen. "Sonst geht die Identität verloren."

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