Smart Contracts:Wenn der Algorithmus Selbstjustiz übt

Justizia Justizpalast München s/w

Wie blind darf Justiz sein?

(Foto: Claus Schunk)

Automatisierte Rechtsprechung kann Hartz-IV-Bescheide anfechten, nach verspäteten Flügen entschädigen und Gerichte entlasten. Doch Computer machen oft allzu kurzen Prozess.

Von Adrian Lobe

Das Vertragsrecht ist eine der ältesten Institutionen der modernen Gesellschaft. Rechtsgrundsätze wie das Verbot widersprüchlichen Verhaltens ("venire contra factum proprium") oder Vertragstreue ("pacta sunt servanda"), dessen Einhaltung man sich auch im politischen Kontext wünschte, gehen auf die römische Rechtstradition zurück. Die Institute haben sich über 2000 Jahre bewährt. Doch die Digitalisierung setzt auch das Recht unter Druck.

Unter dem Stichwort "Legal Tech" versuchen einige Start-ups, mit maschinellem Lernen und Big-Data-Methoden Muster in Gerichtsentscheidungen zu erkennen und bestimmte Verfahrensabläufe im Prozessrecht zu automatisieren. Start-ups wie Flightcash oder Compensation2Go prüfen auf dem Gebiet der Fluggastrechte automatisiert die Ansprüche von Flugreisenden. Dabei errechnet ein Algorithmus anhand verschiedener Datenpunkte in wenigen Sekunden die Wahrscheinlichkeit des Entschädigungsanspruchs. Lässt sich die Forderung durchsetzen, erhält der Anspruchsberechtigte einen Teil der Entschädigung als Sofortzahlung. Rechtlich gesehen ist dies eine Forderungsabtretung.

Auch im Sozialrecht kommen Algorithmen zum Einsatz. Das Bremer Legal-Tech Rightmart prüft etwa Formfehler in Hartz-IV-Bescheiden, um dann einen individuellen Widerspruch ans Jobcenter zu schicken. Ein Stanford-Student hat bereits vor zwei Jahren ein Computerprogramm entwickelt, mit dem man automatisiert Bußgeldbescheide anfechten kann.

"Roboteranwälte" könnten die teils horrenden Prozesskosten senken und sozial Schwächeren Zugang zur Rechtshilfe gewähren. 80 Prozent der Amerikaner können sich keinen Anwalt leisten. Den Behörden sind Legal-Tech-Dienste jedoch ein Dorn im Auge, weil sie die Eintrittsschwellen für die Geltendmachung von Ansprüchen senken und eine Prozesslawine in Gang setzen könnten. Müssen die Behörden den Beschwerden stattgeben, weil ihnen schlicht die Ressourcen zu einer sorgfältigen Bearbeitung jedes einzelnen Antrags fehlen? Wird das Recht zu einer bloßen Information, mit der man Algorithmen programmiert? Muss die Stadtverwaltung vielleicht auch Chatbots einsetzen, um der Klageflut Herr zu werden? Kann sich nur Recht verschaffen, wer die besseren Algorithmen hat?

Der smarte Vertrag überwacht seine Einhaltung selbst

Die (Teil-)Automatisierung bestimmter Verfahren ist nur die Vorstufe einer tief greifenden Veränderung des Rechts, bei dem ganze Rechtsinstitute umcodiert werden. Im Mittelpunkt dieser Transformation stehen sogenannte Smart Contracts, selbstausführende Verträge, die auf der Verschlüsselungstechnologie Blockchain basieren und automatisiert Rechtsfolgen auslösen. Bei Smart Contracts handelt es sich um webbasierte Computerprotokolle, in denen Vertragsinhalte als Programmcode formuliert werden.

Typische Anwendungsgebiete sind Kauf- oder Mietverträge. Der Besitzer stellt ein, wie hoch der Mietpreis und die Kaution sind. Gerät der Mieter in Zahlungsverzug oder Liquiditätsschwierigkeiten, würde der Schlüssel beim Betreten der Wohnung automatisch blockieren (vergleichbar dem Sperren einer Kreditkarte). Die Vertragsparteien müssen sich nicht mehr begegnen. Analog dazu würde ein Mietwagen (bei entsprechender Sensorik und Konnektivität) nicht mehr fahren, wenn die Rate nicht pünktlich bezahlt wurde. Der smarte Vertrag überwacht seinen eigenen Vollzug. Vollstreckungsprobleme gibt es nicht. Der Computer wird zum Gerichtsvollzieher.

In den USA sind in vielen Fahrzeugen inzwischen sogenannte "starter interruption devices" eingebaut, die das Auto absperren, wenn der Mieter oder Leasing-Nehmer in Zahlungsverzug ist. Die Axa Frankreich hat indes eine vollautomatische Blockchain-Police ("Fizzy") gestartet, bei der sich Kunden über Smart Contracts gegen Flugverspätungen versichern können. Auch auf dem Gebiet der Urheber- und Leistungsschutzrechte ließen sich smarte Verträge implementieren. Eine DVD könnte nur für die Märkte in den USA und Europa lizenziert werden und so programmiert werden, dass sie nur in diesen geografischen Regionen ausgespielt werden kann. Das heißt, rechtswidrige Handlungen wie zum Beispiel Produktpiraterie oder Schwarzschauen ließen sich ex ante technisch unmöglich machen.

In seinem viel zitierten Aufsatz "Code is Law" stellte der Harvard-Jurist Lawrence Lessig die These auf, dass der Code den Effekt von Gesetzen habe, indem er das Verhalten von Internetnutzern reguliere. Die Wissenschaftler Primavera De Filippi und Samer Hassan, die am Berkman Klein Center for Internet & Society forschen, haben das Konzept dialektisch umgekehrt ("law is code"): Sie argumentieren, dass das Gesetz in Code geschrieben wird.

Die Gefahren der kryptolibertären Utopie

Die Rhetorik vom "Cutting out the Middlemen" (die Mittelsmänner aussschalten), die noch den antiinstitutionellen Geist des "Whole Earth Catalogue" atmet, ist von dem Gedanken getragen, die Strukturen der Justiz zu umgehen und das Rechtssystem zu effektivieren. Es ist ja ein richtiger Ansatz: Recht gibt es nur da, wo auch Recht gesprochen wird. Doch die kryptolibertäre Utopie eines sich selbst exekutierenden Rechtsstaats könnte sich in computerisierte Schnelljustiz verwandeln, wo Algorithmen kurzen Prozess machen und Bürger abgeurteilt werden. Der Rechtsschutz, etwa Räumungsschutz, der Mieter vor einer Zwangsvollstreckung schützt, würde einfach abgeschafft.

Das führt unweigerlich zu sozialen Härten. Im Jahr 2014 musste eine alleinerziehende Mutter in Las Vegas ihre asthmakranke Tochter in ein Krankenhaus fahren. Doch ihr Chrysler sprang nicht an. Der Grund: Ihr Vermieter hatte über ein im Fahrzeug eingebautes Gerät die Zündung blockiert. Die Frau war drei Tage im Rückstand mit ihrer monatlichen Rate. Doch das Geld konnte sie an diesem Morgen nicht aufbringen. "Ich war absolut hilflos", sagte die Frau der New York Times.

Die Einführung smarter Verträge würde überdies die Gewaltenteilung aushebeln: Der Gerichtsvollzieher ist ein staatliches Organ, der in Ausübung seiner hoheitlichen Befugnisse eine Verwaltungsaufgabe (ähnlich einer Behörde) ausführt. Würde nun der Vermieter einer Wohnung über das Vehikel der Blockchain eigenmächtig den Wohnungsschlüssel sperren, wäre dies ein Fall von Selbstjustiz und würde die Legitimation des Rechtsstaats unterminieren. Vertragsparteien sind nicht Richter in eigener Sache.

Passt einem die Zahlungsmoral des Mieters nicht, deaktiviert man kurzerhand den Schlüssel

Der Softwareentwickler David Golumbia kritisiert in seinem Buch "The Politics of Bitcoin", dass die Blockchain auf eine Delegitimierung politischer Institutionen zugunsten technologischer Substitute hinauslaufe. Der Wunsch, Unsicherheiten oder Misstrauen aus dem System zu entfernen, sei antidemokratisch. Die Ausschaltung intermediärer Akteure zeitigt überdies antisoziale Effekte: Man muss gar nicht mehr in Gespräche oder Verhandlungen eintreten, sondern drückt einen Knopf, um die gewünschten Folgen herbeizuführen. Passt einem die Zahlungsmoral des Mieters nicht, deaktiviert man kurzerhand den Schlüssel.

Der Philosoph Gilles Deleuze notierte in seinem 1995 erschienenen "Postskriptum über die Kontrollgesellschaften": "Félix Guattari malte sich eine Stadt aus, in der jeder seine Wohnung, seine Straße, sein Viertel dank seiner elektronischen (individuellen) Karte verlassen kann, durch die diese oder jene Schranke sich öffnet; aber die Karte könnte auch an einem bestimmten Tag oder für bestimmte Stunden ungültig sein; was zählt, ist nicht die Barriere, sondern der Computer, der die - erlaubte oder unerlaubte - Position jedes einzelnen erfasst und eine universelle Modulation durchführt."

Das ist von der Realität nicht mehr allzu weit entfernt. Apple hat im Jahr 2011 ein Patent für eine Technik bewilligt bekommen, mit der es möglich sein soll, Handy-Kameras etwa auf Konzerten per Infrarot zu blockieren. Um zu verhindern, dass Konzertmitschnitte kostenlos im Netz landen, müsste der Hausherr kein Film- und Fotografieverbot erwirken, sondern einfach die Funktion im Handy sperren. Es wäre der perfekte Nanny-State: Niemand würde gegen ein Gesetz verstoßen, weil man Verstöße durch technische Voreinstellungen unmöglich macht und Gesetzestreue programmiert. Doch zu einer offenen Gesellschaft gehört auch die Freiheit, gegen Normen zu verstoßen.

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