Zum Tod von Willibald Sauerländer:Der Kunstlehrer

Zum Tod von Willibald Sauerländer: Willibald Sauerländer 1924 - 2018.

Willibald Sauerländer 1924 - 2018.

(Foto: Regina Schmeken)

Wie kein anderer hat Willibald Sauerländer den Blick auf die bildenden Künste geprägt und verändert. Im Alter von 94 Jahren ist der große Kunsthistoriker und Rezensent dieser Zeitung gestorben.

Von Gottfried Knapp

Die Tatsache, dass Willibald Sauerländer am 29. Februar 1924, also an einem Schalttag, geboren wurde, lädt Menschen, die sich mit dem wissenschaftlichen und essayistischen Werk des großen Kunsthistorikers beschäftigen, zu einem assoziativen Sprung ein paar Jahre zurück nach Paris ein. Dort hat Pierre Rosenberg, der damalige Präsident des Louvre, bei der Verleihung eines hohen französischen Ordens an Willibald Sauerländer, den geehrten Gelehrten aus Deutschland als den "jüngsten" seiner Zunft bezeichnet.

Und wer sich von den Arbeiten Sauerländers - der seit 1924 seinen Geburtstag nur 23 Mal kalendarisch regulär feiern konnte -, etwa seinen wunderbaren Ausstellungsanalysen in der Süddeutschen Zeitung (siehe unten), zeitlich nach hinten arbeitet bis zu den grundlegenden wissenschaftlichen Arbeiten, der wird dem Louvre-Chef nachdrücklich zustimmen: Einen Kunsthistoriker, der über sechs Jahrzehnte hinweg so jung, so lebendig und reaktionssicher geblieben ist wie Willibald Sauerländer, hat es in diesen Jahren nicht gegeben. Kaum ein Historiker hat die Jahrhunderte seit der frühen Gotik mit einer vergleichbaren Begeisterung durchmessen, kaum einer mit einer ähnlichen Entdeckerlust neue Themen angerissen und Brücken geschlagen zwischen Zeitebenen und Stilwelten, die bis dahin als unvereinbar galten.

In Paris entdeckte er die Gotik und wurde zum Gelehrten

Aber auch über sein eigenes Fach und dessen wechselndes Verhältnis zu den zeitgenössischen Künsten, zur Medienwelt und zu den politischen Gegebenheiten hat Sauerländer immer wieder grundsätzlich nachgedacht. Schon als er 1953 in München sein Kunstgeschichtsstudium mit einer Promotionsarbeit über "Das gotische Figurenportal in Frankreich" abschloss, muss er die ideologische Befangenheit der ersten Nachkriegs-Lehrergeneration, die national-konservative Orientierung vieler Professoren sowie die fehlende Neugier für Neues, Fremdes, Ungewohntes als typisch deutsches Zeitproblem empfunden haben. Auch dürfte ihm aufgefallen sein, mit welcher Entschiedenheit die aus Deutschland vertriebenen, großenteils jüdischen Kunstwissenschaftler mit ihren in England oder in den USA gemachten kulturhistorischen Entdeckungen und ihren methodischen Neuansätzen im Land, in dem sie aufgewachsen waren, geleugnet oder totgeschwiegen wurden.

All dies und zudem die Berufung des in Wien wegen Mitgliedschaft in der NSDAP entlassenen Kunsthistorikers Hans Sedlmayr 1951 als Ordinarius an die Münchner Universität, dürfte Sauerländer dazu bewogen haben, nach dem akademischen Abschluss des Studiums erst einmal nach Paris auszuweichen und sich dort, wie er sehr viel später in einer autobiografischen Skizze schrieb, "für eine Reihe von Jahren auf die Schulbank der französischen Mittelalterarchäologie" zu setzen. Er hat sich also zunächst auf jenem Gebiet weitergebildet, dem er sich schon in München mit Leidenschaft gewidmet hatte: den bildenden Künsten im Geburtsland der Gotik.

Die, wie Sauerländer selber schrieb, auf "unangreifbare antiquarische Fakten" gestützte kunsthistorische Forschung Frankreichs, die sich der in Deutschland so beliebten Spekulation verweigerte, sollte aus dem frankophilen deutschen Kunsthistoriker jenen Gelehrten machen, der imstande war, anhand der aus entlegenen Winkeln zusammengekratzten Fakten die quasi genetischen Besonderheiten der betrachteten Bauten und Objekte, also die Grundbedingungen ihrer Entstehung und Ausgestaltung herauszupräparieren.

Bis heute gelten die monografischen Aufsätze über gotische Monumente und dann die resümierenden Forschungen über "Die Skulptur des Mittelalters", über "Die gotische Skulptur in Frankreich" oder "Das Jahrhundert der großen Kathedralen 1140 - 1260", die Sauerländer als Wissenschaftlicher Assistent in Marburg, als Ordinarius in Freiburg und schließlich als Direktor des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München veröffentlicht hat, als Grundlagenwerke des Fachs. Auf die Studenten der '68er-Generation freilich musste der Mann, der sich ideologische Exkurse und Umwertungen der tradierten Künste kategorisch verbat und in seinen Schriften mit Fakten Spannung zu erzeugen vermochte, wie ein provozierendes Relikt aus fernen Zeiten wirken.

Doch als sich aus der Protestkultur der Studenten in den kunsthistorischen Seminaren allmählich neue Formen der Forschung und der Wissenschaft herauszubilden begannen und die rapide wachsende öffentliche Bilderflut sowie die bedrückende Allmacht der Medien nach neuen Techniken der Analyse verlangten, sollte sich zeigen, dass Sauerländer mit seiner Fokussierung auf überprüfbares Material und mit seiner Ablehnung aller ideologisch oder nationalistisch getönten Untersuchungsmethoden den Forderungen der neuen Kunst-Denker und den Entdeckungen der neuen Bild- und Medienwissenschaften sehr viel näher kam als die Kollegen, die ihre Methoden den gewandelten Vorstellungen der Zeit angepasst hatten.

Sauerländer hat Frankreich als Kriegsgefangener lieben gelernt

Den im Fischer-Taschenbuchverlag erschienenen Aufsatz über "Das Königsportal in Chartres" hat Sauerländer mit einer Reihe von Äußerungen prominenter Literaten, Künstler und Kunsthistoriker eröffnet. Die mit rühmenden oder abwertenden Adjektiven geradezu überhäuften Zitate - sie wurden allesamt im 19. oder frühen 20. Jahrhundert verfasst - widersprechen sich in ihrer Bewertung und Ausdeutung der extrem in die Länge gezogenen Figuren und ihrer wunderbar individuell beseelten Gesichter so fundamental, ja sie stürmen mit ihren Meinungen so wortgewaltig und überzeugt in die unterschiedlichsten Richtungen davon, dass man das Schmunzeln des Mannes zu sehen glaubt, der die aus dem Bauch getätigten verbalen Ergüsse kunstbeflissener Herrschaften zusammengestellt und so als subjektive Spekulationen entlarvt, ja fast der Lächerlichkeit preisgegeben hat. Sauerländer verzichtet zwar auf ein wertendes Resümee, doch die feinen Andeutungen, die er den Texten bei der Vorstellung mitgibt, vermitteln eine Ahnung davon, wie entschieden er Urteile über Kunstwerke lang vergangener Epochen ablehnt, die ohne Kenntnis der historischer Gegebenheiten gefällt wurden.

Dass das Interesse an einem Werk aber nicht nachlassen muss, wenn man historisches Wissen zu Rate zieht, ja dass sich Spannung überhaupt erst dann entwickelt, wenn man ein Kunstwerk aus den spezifischen Bedingungen seiner Entstehung zu begreifen versucht und mit literarischen Zeitzeugnissen in Verbindung bringt, führt Sauerländer in seinem Taschenbuch über das Westportal von Chartres höchst eindrucksvoll vor. So kann er, vom biblischen Subtext ausgehend, durch Vergleiche mit Bildprogrammen anderer Kirchenportale und durch Hinzuziehen weltlicher wie geistlicher Texte des Mittelalters die scheinbar widersprüchliche Vielfalt der am Königsportal verteilten biblischen und weltlichen Skulpturenzyklen als subtil geordnetes Idealbild jener auf der Kirche gründenden höfischen Ordnung deuten, wie sie in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts im Herzen Frankreichs noch existiert haben muss.

Wer ein Land im denkbar widrigsten Moment lieben gelernt hat, der wird dieser Liebe auch in guten Tagen treu bleiben. Willibald Sauerländer ist, wie er selber 2009 bei einer Tagung in München bekannte, dem Zauber Frankreichs schon vor seinem Studium erlegen. Im Alter von 21 Jahren hat er als Kriegsgefangener in Frankreich das silbrige Flimmern der Pappeln und Weiden im Sonnenlicht, das Maler wie Corot im 19. Jahrhundert immer wieder auf Leinwände zu bannen versucht haben, als intimen Ausdruck Frankreichs lieben gelernt. Die lebenslange intensive Beschäftigung mit der Kultur dieses Landes und ganz besonders mit der Gotik und dem 19. Jahrhundert, also den beiden Epochen, in denen Frankreich der Welt neue Wege gewiesen hat, ist also Ausdruck eines empathischen Gefühls für die spezifischen Qualitäten dieses Landes.

In Rubens' katholischen Altären fand er eine Art von Gottesbeweis

Die diversen Aufsätze über Poussin, über Houdon, Chardin oder Manet, die in der Kunstwelt wie Entdeckungen gewirkt haben, deuten die Spur an, die ihr Autor vom Mittelalter bis hin zur Moderne und zur Gegenwart verfolgt hat. Und der ikonologische Ansatz, dem Willibald Sauerländer mit seiner Art der Argumentation immer wieder sehr nahe gekommen ist, hat ihm 1961 eine Einladung an das Institute for Advanced Studies nach Princeton und danach eine ganze Reihe weiterer Einladungen an prominente Universitäten der USA eingebracht. Das eigentliche Wunder im Leben des Kunsthistoriker Sauerländer ist aber, dass dem in akademischen Diensten verfassten wissenschaftlichen Werk nach der Emeritierung im Jahr 1989 ein zweites, thematisch nach vielen Seiten sich öffnendes wissenschaftliches Werk folgen sollte. Aus dem Doyen der Kunstgeschichtsschreibung wurde, wie er selber sagte, ein "Flaneur" der Künste, ein Entdecker, der sein fundamentales Wissen und seine Darstellungskunst neuen Forschungsgebieten zugutekommen ließ und seine Leser mit höchst anschaulichen Beweisführungen und verblüffenden Erkenntnissen fesselte.

Eines der einprägsamsten Beispiele für diese buchstäblich mitreißende Methode des Spurenverfolgens ist das 2011 erschienene Buch "Der katholische Rubens", das sich mit den von der Forschung peinlich vernachlässigten oder mit Phrasen wie "barocker Überschwang" abgetanen Schreckensbildern der katholischen Märtyrergeschichte im Werk von Rubens auseinandersetzt.

Nicht nur für Rubens-Liebhaber dürfte es ein besonderes Leseerlebnis sein mitzuverfolgen, wie der "aufgeklärte Agnostiker" Sauerländer, der Sohn eines Künstlers und Abkömmling einer Familie, "welcher alles Katholische verdächtig war", durch kompromisslose Rückbeziehung auf die teilweise extrem blutdürstigen Parolen der Gegenreformation und auf die recht eigensinnigen Glaubensordnungen der auftraggebenden Kirchen dem dargestellten grausigen Geschehen einen vieldeutig tiefen Sinn gibt und so die bildschöpferische und interpretatorische Leistung des Malers überhaupt erst verständlich macht. Man begreift: Nie hat das erzählerische und dramaturgische Genie von Rubens größere Wunder vollbracht als dort, wo "der Terror irdischer Historie" in die "Gnade des Himmels" überführt werden musste. Bei der kompositorischen Überhöhung der theologischen Gruseldramen ist dem Katholiken Rubens eine Art von Gottesbeweis gelungen.

Am Abend des 18. April ist Willibald Sauerländer im Alter von 94 Jahren in München verstorben.

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