Bücher:Stöbern ade

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Zürich plant eine Revolution der Uni-Bibliotheken.

Von Thomas Steinfeld

Bibliotheken können, auch für Nutzer, die aus professionellen Gründen in ihnen arbeiten, wunderbare Orte sein, im buchstäblichen Sinn. Denn selbstverständlich steht das gesuchte Buch nicht an der Stelle, an der es stehen müsste, zum Beispiel, weil es ein anderer Besucher liest. Aber das Buch daneben ist auch interessant, und im Fach darüber stehen gleich zwei, drei Werke, in die man unbedingt einmal hineinschauen wollte. Wer eine Freihandbibliothek auf diese Weise besucht, der findet nicht nur, sondern er verirrt sich auch: mit der Folge, dass die Zahl der nicht verwertbaren Seiten die der "Treffer" oft um ein Vielfaches übersteigt. Verloren aber ist die verwendete Zeit für das Streunen in Büchern trotzdem nicht: Die Umwege der Lektüren gehen als unsichtbarer Horizont in die eigene Arbeit ein, das vermeintlich "Überschüssige" lässt überhaupt erst den Rahmen entstehen, in dem man sich geistig bewegt.

Die Universität Zürich will, wie jetzt bekannt wurde, den größten Teil ihrer achtzig Seminar- und Fakultätsbibliotheken aufgeben und die Bücher in einer noch zu schaffenden Zentralbibliothek zusammenfassen. Im Jahr 2025 soll die neue Bibliothek eröffnet werden. Der Plan ist einzigartig im deutschen Sprachraum. Er verbindet sich mit der Versicherung, die Büchersammlungen würden zukünftig effizienter genutzt werden können, zum Beispiel, weil sich die Zahl der mehrfach vorhandenen Titel reduzieren und deren Betreuung durch Bibliothekare zentralisieren lasse. In der Regel sollen Bücher in Zukunft nur über Bestellung, also über ein Magazin, zugänglich sein, wodurch man mehr Raum für Arbeitsplätze gewinne.

In der Praxis wird eine solche Veränderung bedeuten, dass mehr mit digitalen Reproduktionen gearbeitet werden wird: Denn was soll der Student oder Forscher anderes tun, wenn das einzige vorhandene Exemplar ausgeliehen ist? "Wenn wir jetzt nicht reagieren, gehören wir bald zu den Verlierern", erklärte der zuständige Prorektor. Er wird damit auch das Verhältnis zwischen der kultur- und geisteswissenschaftlich geprägten Universität Zürich und der von den Natur- und Ingenieurwissenschaften dominierten Eidgenössischen Technischen Hochschule ("ETH") gemeint haben, wo man schon seit Längerem auf eine mehr oder minder vollständige Digitalisierung der Literaturapparate setzt.

An der Universität Zürich regt sich erheblicher Widerstand gegen die Pläne der Leitung, verständlicherweise vor allem aus den kleinen und abgelegenen Fächern. Denn erzwungen wird mit einer solchen Umstellung des Bibliothekswesens eine zunehmende Angleichung der Arbeitsweise aller Fächer an die Informationstechniken der Natur- und Ingenieurwissenschaften. Denn dort mag es ja so etwas wie eine streng zielgerichtete, störungsfreie Lektüre geben. In den Kultur- und Geisteswissenschaften erweist sich die Idee des effizienten Lesens indessen schnell als Illusion: Im selben Maß, wie nur noch einzelne Informationen interessieren, geht die Aufmerksamkeit verloren, die dem Lesen, Denken und Schreiben zugewandt wird. Und schlimmer noch: Es schwindet die Möglichkeit, etwas Neuem, Ungewusstem zu begegnen. Denn auch dessen Ort ist die Freihandbibliothek.

© SZ vom 24.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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