Kommentar:Entmündigte Bankkunden

Wer ein Wertpapier kaufen will, muss sich erst einmal beraten lassen. So ausführlich, dass viele Finanzinstitute die Beratung zu einzelnen Wertpapieren eingeschränkt haben, weil sie sich nicht mehr lohnt.

Von Simone Boehringer

Wer fürs Sushi-Essen rohen Fisch einkauft, hat die freie Wahl. Man kann den Fisch einfrieren, in den Kühlschrank stellen oder auch bei Zimmertemperatur lagern und später verspeisen. Wer bei der Zubereitung der japanischen Volksspeise einen Fehler macht und eine Fischvergiftung bekommt, ist selber schuld. Ertragen muss man die Folgen selbst, unabhängig davon, ob man Ahnung vom Umgang mit Lebensmitteln hat oder nicht.

Ganz anders bei der Geldanlage: Wer ein Wertpapier kaufen will, muss erst mal umfangreich erklären, dass er dafür geeignet ist. Um sich Aktien, Anleihen, Zertifikate oder Derivate zulegen zu können, eben alles, was in Tiefzinszeiten eventuell noch einen Ertrag oberhalb der Inflationsrate bringt, aber eben auch zu Verlusten führen kann, müssen Privatanleger sich vorab ausführlichst beraten und belehren lassen. So ausführlich, dass viele Finanzinstitute die Beratung zu einzelnen Wertpapieren eingeschränkt haben, weil sie sich nicht mehr lohnt. Zu hoch ist der Dokumentationsaufwand, zu umfangreich sind die Haftungsrisiken.

Die Überregulierung der Geldanlage führt zu einer Zweiklassengesellschaft

Mit der jüngsten Finanzmarktrichtlinie Mifid II, die seit Anfang des Jahres gilt, hat sich dieser Trend noch verschärft. Zumal die Berater ihre Kunden streng in Risikoklassen einstufen müssen, die für Normalverdiener den Erwerb einzelner Aktien oder Rohstoffpapiere fast unmöglich machen oder die Haftungsrisiken für die Institute immens erhöhen. Deshalb gibt es für die meisten praktisch nur noch Standard - Fonds oder Papiere, die ganze Börsenbarometer abbilden, um ja die Risiken im Depot breit zu streuen. Was für mehr Anlegerschutz und Transparenz im Wettbewerb und Vertrieb mit Finanzprodukten führen sollte, bringt unerwünschte Nebenwirkungen: Gerade beratungsbedürftige, weil ahnungslose Kunden werden von den Märkten wegreguliert.

Der Kunde mit der Fischvergiftung kuriert sich im Krankenhaus aus. Die Kosten der Genesung übernimmt seine Krankenversicherung. Wenn der Gesetzgeber anfinge, die Fischhändler für den Wissensstand ihrer Kunden verantwortlich zu machen, indem etwa der Besuch eines Zubereitungsseminars vorgeschrieben würde vor dem Erwerb von rohem Fisch, müssten viele Händler- und Sushi-Ketten wohl schließen. Bei Lebensmitteln dürfen Kunden fast alles kaufen, was in Läden angeboten wird, von der Rohware bis zur kochfertigen Speise - ohne Nachweis ihrer Qualifikation. Bloß der Konsum von Rauschmitteln und Alkohol ist streng überwacht. Bei Geldanlagen dürfen Kunden dagegen fast gar nichts mehr selbst entscheiden ohne Nachweise.

Das Missverhältnis ist eklatant, und nach der jüngsten Regulierungsrunde in Europa wird es auch gefährlich. Zum einen, weil nicht nur die Institute, sondern auch Kunden sich dem verordneten Beratungsprozess entziehen und entweder ihr Geld praktisch renditelos auf Sparkonten versauern lassen oder mit falschen Angaben zur Risikoklasse versuchen, sich bei Direktbrokern selbst zu organisieren.

Die Überregulierung der Geldanlage führt zu einer Zweiklassengesellschaft, ausgerechnet da, wo es um das essenzielle gesellschaftliche Ziel der privaten Altersvorsorge geht. Konkret sind dem Gros der Privatanleger - wenn sie nicht über größeres Vermögen verfügen - oft nur noch Standardmärkte offen, sie werden mit Standardprodukten versorgt, die dann je nach Börsenlage standardmäßig steigen oder fallen. Dies begünstigt einen Herdentrieb, Markttrends werden verstärkt, die Vielfalt an Anlagen wird eingeschränkt.

Das wissenschaftlich unterlegte Ziel der Risikominimierung durch eine breite Streuung des Geldes auf verschiedene Wertpapiere und Anlageklassen wird wertlos, wenn viele mehr oder weniger dasselbe tun. Den Renditevorsprung erzielen dann allenfalls die Privilegierten, für die sich aus Bankensicht eine individuelle Depotgestaltung lohnt, oder die Profis, für die die strengen Beratungs- und Haftungsregeln nicht gelten. Eine solche Mehrklassengesellschaft war sicher nicht im Sinne des Regulierers, der nach den Erfahrungen in der Finanzkrise die Privatanleger schützen und nicht ausgrenzen wollte.

Daher ist mehr Augenmaß nötig. Vor allem die Dokumentationspflicht der Anbieter gehört erleichtert, denn der gute Prozess der Demokratisierung und Transparenz am Finanzmarkt, wie er seit 20 Jahren läuft, verkehrt sich sonst ins Gegenteil. Privatanleger wollen nicht draußen bleiben - so wenig wie Sushi-Fans.

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