Chelsea Manning auf der Republica:"Meinungsfreiheit bedeutet nicht, jedem ein Mikrophon zu geben, der eine Meinung hat"

Chelsea Manning auf der Republica: Die frühere US-Soldatin und Whistleblowerin Chelsea Manning bei ihrem Auftritt auf der Republica in Berlin.

Die frühere US-Soldatin und Whistleblowerin Chelsea Manning bei ihrem Auftritt auf der Republica in Berlin.

(Foto: TOBIAS SCHWARZ/AFP)
  • Chelsea Manning ist der Stargast der Republica 2018.
  • Die ehemalige US-Soldatin und Whistleblowerin saß sieben Jahre in Haft und ist seit einem Jahr frei. Der Auftritt in Berlin ist ihr erster in Deutschland.
  • Das Publikum feiert sie für ihren Mut. Manning weist die Rolle als Vorbild aber zurück.

Von Simon Hurtz, Berlin

Ginge es nach Donald Trump, wäre die Bühne leer. Die "undankbare Verräterin" hätte "niemals aus dem Gefängnis entlassen werden sollen", schrieb der US-Präsident auf Twitter. Doch es geht nicht immer nach Donald Trump. Deshalb spricht Chelsea Manning auf der größten Bühne der Republica in Berlin, und Tausende Menschen feiern sie dafür.

Im Mai 2017 postete die US-amerikanische Whistleblowerin, die für ihren Geheimnisverrat sieben Jahre im Gefängnis saß, ein Foto auf Instagram: schwarze Chucks, braune Holzdielen. Darunter schrieb sie: "Erste Schritte der Freiheit!" Ein Jahr später haben diese Schritte sie nach Deutschland geführt. Manning ist der Stargast der Republica, und das sieht man: Kein Stuhl bleibt frei, Menschen sitzen auf den Treppen und drängen sich in den Gängen.

Dass ihr Auftritt ein besonderer ist, hört man auch: Als Manning die Bühne betritt und kurz ins Publikum winkt, brandet warmer Applaus auf. Als sich die Moderatorin bei Manning bedankt, dass sie nach Berlin gekommen ist, klatschen Tausende Paar Hände, um zu sagen: Danke für deinen Mut, für deinen Idealismus, und dafür, dass du Welt ein kleines bisschen besser gemacht hast.

Sieben Jahre im Gefängnis, zwei Suizidversuche, eine Geschlechtsangleichung

Das hat Manning tatsächlich. 2010 gab die frühere Nachrichtenanalytikerin des US-Militärs Hunderttausende Dokumente an Wikileaks weiter. Das Material offenbarte, wie US-Diplomaten ausländische Staatsoberhäupter und Politiker einschätzten ("Angela 'Teflon' Merkel") und enthielt brisante Informationen über Unschuldige in Guantanamo. Vor allem aber stellte es die Auslandseinsätze des US-Militärs in Frage. Ein Video zeigte, wie US-Soldaten aus einem Kampfhubschrauber mehr als ein Dutzend Zivilisten erschießen, darunter Journalisten. Die Wikileaks-Veröffentlichungen trugen maßgeblich dazu bei, dass Obama die US-Truppen 2011 aus dem Irak abzog.

Mannings Taten haben womöglich vielen Menschen das Leben gerettet. Ihr eigenes haben sie beinahe zerstört. Sie wurde zu 35 Jahren Haft verurteilt und versuchte zweimal, sich umzubringen. Erst nach einem Hungerstreik erhielt sie Hormonpräparate, die Bradley Manning auch körperlich in Chelsea Manning verwandelten. Als Frau hatte sie sich schon immer gefühlt. Barack Obama begnadigte sie kurz vor Ende seiner Amtszeit, im vergangenen Mai kam sie frei.

Auf der Republica will Manning nicht im Detail über ihre Zeit als Militärgefangene sprechen. "Eine Transition im Gefängnis, das ist kompliziert. Das kann ich nicht in fünf Sätzen beschreiben", sagt sie. Sie arbeite an einem "sehr persönlichen" Buch, in dem sie solche Fragen beantworten werde. Wichtiger als ihre eigenen Erfahrungen seien die aktuellen Entwicklungen in der Gesellschaft.

"Es ist mehr als ein Hype, es ist wirklich gefährlich"

Manning warnt davor, dass Unternehmen und Regierungen immer mehr Daten anhäuften. Wenn moderne Algorithmen diese Informationen analysierten, gefährde das die Privatsphäre und die Gesellschaft als Ganzes. "Es ist mehr als ein Hype, es ist wirklich gefährlich", sagt Manning und appelliert an Programmierer, endlich Verantwortung für ihre digitalen Schöpfungen zu übernehmen. Für Konzerne wie Facebook oder Google sei es bequem, sagen zu können: "Die Maschine war's, wir haben die Entscheidung doch gar nicht selbst getroffen." Aber solche mächtigen Systeme seien nie neutral, sondern repräsentierten immer die Vorurteile derjenigen, die sie entwickelten.

Ihr zweites großes Thema ist die Bereitschaft, abweichende Meinungen zu tolerieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. "Dissens ist der zentrale Teil meines politischen Denkens", sagt Manning, schränkt aber gleich ein: "Du kannst nicht mit jemandem diskutieren, der Völkermorde oder ethnische Säuberungen befürwortet." Der Rassismus der US-Rechten habe nichts mit "Free Speech" zu tun. "Meinungsfreiheit bedeutet nicht, jedem ein Mikrophon zu geben, der eine Meinung hat." Dennoch fordert sie die Zuhörer auf, bewusst den Kontakt zu Menschen zu suchen, die andere Sichtweisen vertreten. "Fragt sie, sprecht mit ihnen, seid offener. Es ist harte Arbeit, aber es ist wichtig."

Ihre Zeit im Gefängnis wirkt auch ein Jahr später nach: "Ich versuche, mich an ein Leben in Freiheit zu gewöhnen. Und ich versuche, mich an ein Leben als öffentliche Person zu gewöhnen." Beides seien bereits für sich genommen große Herausforderungen.

Manning will kein Vorbild sein

Ihre Prominenz nutzt Manning, um politische Botschaften loszuwerden, die ihr am Herzen liegen. Alle Probleme, die sie vor zehn Jahren angetrieben hätten - massenhafte Überwachung durch Geheimdienste, Militarisierung, die Verwandlung von Demokratien in autoritäre Regime - seien seitdem noch schlimmer geworden. "Es reicht nicht, über Reformen zu reden. Es reicht nicht, unsere Hoffnung auf Veränderung in Tweets auszudrücken. Dafür haben wir keine Zeit." Die ganze Welt bewege sich gerade in die falsche Richtung. Zaghafte Forderungen stoppten diese Entwicklung nicht. "Wir müssen sie mit Nachdruck stoppen."

Das Publikum reagiert auf solche Aussagen mit spontanem Applaus. Den größten Zuspruch erfährt Manning aber, wenn sie persönlich wird. Ganz am Ende spricht sie über ihre Selbstzweifel: "Ich fühle mich nicht wie ein Vorbild. Mir macht das Sorgen, ich bin nicht perfekt", gibt sie zu. "Als Transgender habe ich mich mein ganzes Leben nach einem solchen Vorbild gesehnt. Ich suche immer noch danach, es ist wirklich hart." Der Rest der Welt solle sich nicht an ihr orientieren. Die stärksten Vorbilder säßen nicht auf Bühnen. "Sie leben ein ganz normales Leben. Nehmt euch kein Beispiel an einem US-Promi. Schaut auf eure Freunde, achtet auf euch selbst."

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