Nachruf:Ludwig Harig ist tot

Ludwig Harig wird 75; nachrufsw

Ludwig Harig, 18. Juli 1927 in Sulzbach/Saar geboren, starb ebenda am 5. Mai 2018.

(Foto: Arne Dedert/dpa)

Im saarländischen Sulzbach wurde Ludwig Harig 1927 geboren, und er hat viel über die Welt seiner Herkunft geschrieben, auch in ihrer Mundart. Zugleich aber ging seine Kunst aus der Nähe zu Frankreich hervor.

Von Thomas Steinfeld

In einer alten Welt, in der noch Ordnung zu herrschen schien, saß der Schriftsteller Ludwig Harig während der Frankfurter Buchmesse am Stand des Hanser Verlags, mehrere Tage lang und meist ein wenig am Rande. Der Verleger, damals Michael Krüger, kam und ging. Ludwig Harig aber saß da, auch wenn er gerade kein neues Buch anzubieten hatte, freute sich über das gelegentliche Interesse an ihm, und wurde jedem, der ihn ansprach, zu einem interessanten Gegenüber.

So ungefähr muss es auch in seinem Leben zugegangen sein. Es war auf eine Weise ortsfest und, scheinbar, an die Peripherie gebunden, die es heute auch für einen Schriftsteller nicht mehr gibt: Im saarländischen Sulzbach war er im Jahr 1927 geboren worden, dort war er nach dem Krieg Volksschullehrer gewesen, zwanzig Jahre lang, dort starb er am vergangenen Wochenende, im Alter von neunzig Jahren.

Gewiss, zu seinem großen Œuvre gehören auch kleine Werke in saarländischer Mundart. Und es gehört dazu eine zumindest mentale Nähe zum nächsten Sportplatz: "O abgetropfter Ball! O eingeschlenztes Leder", heißt es in einem seiner Fußballgedichte. Aber so, wie es den Anhänger dieser Sportart aus der Begeisterung für seinen Ortsverein in der Kreisklasse hinausträgt zur enthusiastischen Begleitung von Champions League und Weltmeisterschaft, so ist Ludwig Harigs Provinz eigentlich ein Ort des Durchziehens und Sammelns größerer Bewegungen. Das Städtchen am äußersten westlichen Rand der Republik liegt nur ein paar Kilometer entfernt von der Grenze zu Frankreich und damit eigentlich in der Mitte Europas.

Diese Nähe zu Frankreich und zum Französischen war eine der Quellen der Dichtkunst Ludwig Harigs: Nicht nur weil er übersetzte, nicht nur weil ganze Teile seines Œuvres französischen Gegenständen gewidmet sind, der Roman "Rousseau" (1978) zum Beispiel oder die Reflexionen auf "Ubu", den König der Surrealisten (1982), sondern vor allem, weil Harig als sehr junger Mann durch die Lektüre Raymond Queneaus gegangen war, durch eine Schule der Genauigkeit in der Beobachtung des physischen Details, der Aufmerksamkeit für das Umgangssprachliche, eine Schule des Witzes, der Ironie - und eine Schule der Ordnung.

Die andere, wichtige Quelle für Ludwig Harigs Schaffen war die Konkrete Poesie gewesen, und mit ihr das Formalisieren, Collagieren, Montieren, Verdrehen und Verwechseln, das der werdende Dichter im Kreis um den Stuttgarter Philosophen Max Bense erlernt hatte. Diese kleinen Welten zwischen einer frühen Informatik und Dichtkunst haben längst musealen Charakter angenommen. Aber in den Fünfzigern und noch in den Sechzigern tat sich darin nicht nur Skandalträchtiges auf, wie es in Harigs Hörspiel "Staatsbegräbnis" (1962) zur Wirkung kam, einer poetischen Reflexion auf Konrad Adenauers Beerdigung, sondern auch eine blendend neue Zukunft.

Und als diese Zukunft dann auf einen so heimatverbundenen, so fest im Hergebrachten verwurzelten Dichter wie Ludwig Harig traf, kam bemerkenswerte Literatur dabei heraus: "Meinen ersten Schulweg brauchte ich nicht einmal bis zum Ende zu gehen, um dieses Leben in Gestalt eines einzigen Wortes zu erfassen, denn bevor ich am Unschuldspfädchen vorüberging, das damals eine rätselhafte Gerade ins Geheimnis darstellte, und bevor ich ,Pitze Berg' erreichte, der damals aus einer schönen Doppelschleife bestand, kam ich an einem Haus vorbei, das nicht aufgehört hat, meine Gedanken in immer fernere und verworrenere Bahnen zu lenken." Dieser schöne Satz steht in dem Roman "Ordnung ist das ganze Leben" aus dem Jahr 1986, dem Erinnerungsbuch an die deutsche Geschichte zwischen Erstem Weltkrieg und früher Bundesrepublik, mit dem Ludwig Harig einem großen Publikum bekannt wurde und dessen Geschichte er in zwei weiteren Romanen (1990), in "Weh dem der aus der Reihe tanzt" und "Wer mit den Wölfen heult wird Wolf" (1996) fortsetzte.

Das Wort, in dem ein ganzes Leben zusammengefasst sein soll, findet sich dann, aus Mosaiksteinchen gelegt, vor dem Eingang zu jenem Haus. Es heißt "Salve" und besitzt programmatischen Charakter für das literarische Werk Ludwig Harigs und für ihn selbst. Dieser Schriftsteller war ein gebildeter Mann, und die intellektuelle Neugier verließ ihn nie. Ihr sind Reisebücher zu verdanken wie "Gauguins Bretagne" (1988) oder die "Spaziergänge mit Flaubert" (1997), aber auch dem höheren Unfug gewidmete Etüden wie "Der Luftkutscher" (1987). Vor allem aber scheint diese Verbindung von Bildung und Neugier, von "Genauigkeit und Gelassenheit" (Marcel Reich-Ranicki), von Ordnungswillen und Anarchismus menschliche Eigenschaften beflügelt zu haben, die in literarischen Kreisen selten sind: Wohlwollen und Geselligkeit. Diesen Eigenschaften begegnete man, wenn man sich während der Buchmesse am Hanser-Stand zu Ludwig Harig setzte. Glücklicherweise hat der Verlag seinem Schriftsteller die Freundlichkeit vergolten: Die noch unvollständige Harig-Werkausgabe gehört zu den schönsten Editionen, die einem deutschen Dichter der jüngeren Zeit gewidmet sind.

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