Kommentar zum FDP-Parteitag:Lindner muss die Gemütlichkeit vertreiben

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Nach dem Aufschwung bei der Bundestagswahl ist die Selbstzufriedenheit bei den Liberalen gewachsen. Das könnte für die Partei gefährlich werden.

Kommentar von Stefan Braun

Dass Christian Lindner ein gewiefter Redner sein kann, ist bekannt; dass der FDP-Vorsitzende mit voller Wucht für sehr viel mehr Europa eintritt, das gehört bislang nicht zu seinen Kennzeichen. Umso bemerkenswerter war Lindners Auftritt beim Parteitag der Liberalen in Berlin. So eindeutig und leidenschaftlich wie dort hat Lindner noch nie für ein neues, stärkeres und gemeinsames Europa geworben.

Ob es nun an Donald Trumps aggressivem Eigensinn liegt, an Emmanuel Macrons pro-europäischer Ansteckungskraft oder an Angela Merkels enttäuschender Ideenlosigkeit - die radikale Herausforderung Europas hat bei der FDP offensichtlich die Prioritäten verschoben. Eine gemeinsame Außenpolitik, eine gemeinsame Verteidigung, ein gemeinsames FBI gegen den Terror, eine gemeinsame Grundlagenforschung, aber auch ein gemeinsamer Währungsfonds und ein gemeinsamer digitaler Binnenmarkt - was Lindner unter dem Beifall der Delegierten forderte, ist richtig; und bitter nötig.

Bemerkenswert daran ist aber noch etwas anderes. Lindner wollte mit seinem Sprung auf das große Krisenthema nicht nur auf die aktuelle Lage reagieren. Er hat außerdem erkannt, dass er eine gefährliche Gemütlichkeit im eigenen Laden vertreiben muss. Nach dem großen Erfolg des vergangenen Jahres hat er in der Partei viele Leute ausgemacht, die sehr selbstzufrieden glauben, dass das Schwierigste geschafft sei. "Nach der Erneuerung ist vor der Erneuerung der FDP" - der Satz von Lindner steht deshalb als große Mahnung über den Freien Demokraten.

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Doch auch wenn das vor allem seinen Mitstreitern gilt und nicht so sehr ihm selbst - in Berlin fällt auf, dass beim Thema Europa auch Lindner einen interessanten Schwenk macht. Er tut jetzt genau das, was er beim Thema Jamaika nicht tat. Lindner stellt das Machbare in den Vordergrund, statt sich am Schwierigen festzubeißen. Bei den Jamaika-Verhandlungen ist es umgekehrt gewesen. In Zeiten anti-demokratischer Populisten wäre es ein Gewinn, sollte sich diese Herangehensweise bei Lindner dauerhaft durchsetzen.

Die Lage der Partei ist eine andere als vor zwölf Monaten. Damals stachen die Liberalen heraus mit einem Wahlkampf, der sie im Vergleich zu allen anderen besonders schnell, modern, auch lässig erscheinen ließ. Mittlerweile hat sich Erhebliches verändert. SPD, CDU und Grüne sind dabei, die Fenster aufzureißen. Sie öffnen sich für Debatten, laden ein und reisen durchs Land, um die Anhänger, aber auch alle anderen Leute für Politik neu zu begeistern. Ob daraus dauerhaft eine Renaissance der Parteien erwächst, ist nicht sicher. Aber die Resonanz zeigt bei den Grünen genauso wie bei Christ- und Sozialdemokraten, dass viele Menschen sich mehr Information und mehr Debatten wünschen. Umso gefährlicher könnte es für die FDP werden, wenn sich bei ihr das Gefühl festsetzt, die Suche nach dem richtigen Kurs sei nach den Erfolgen 2017 schon wieder Geschichte.

Wie falsch das wäre, zeigte sich im Schlechten wie im Guten beim Thema Russland. Manche persönlichen Angriffe deuteten an, dass das Eis immer noch dünn ist im Umgang miteinander. Gleichzeitig bewiesen viele Plädoyers für mehr Dialog ohne ein vorzeitiges Ende der Sanktionen, wie identitätsstiftend Debatten sein können. Solche Debatten brauchen nicht nur die Liberalen. Sie tun allen gut, die sich um die Demokratie sorgen.

© SZ vom 14.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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