Kunst auf dem Friedhof Geretsried:Ausstellung statt Aussegnung

Unter dem Titel "Dünnhäutig" ist auf dem Geretsrieder Waldfriedhof zum dritten Mal eine gemeinsame Ausstellung verschiedener Künstler zu sehen.

Von Susanne Hauck

Die Haut des alten Mannes ist papiern dünn, das lässt sich erahnen, auch wenn das Bild in sehr reduzierten Farben gehalten ist. Das Hemd ist ihm zu weit geworden. Seine so melancholischen wie weisen Augen verraten: Er befindet sich nicht mehr ganz in dieser Welt, vielleicht blickt er bereits ins nächste Leben. Von der rechten Seite fällt Licht auf ihn, hier ist die Leinwand ganz weiß und es sieht so aus, als löse sich sein Gesicht schon auf.

Bo Busch-Starker ist dabei, ihr großformatiges Ölbild in der Aussegnungshalle Geretsried aufzuhängen. Die aus Dresden stammende Künstlerin, die in Königsdorf lebt, erzählt die berührende Geschichte zu dem Werk mit dem Titel "Ein Gespräch am Abend": Ihre Mutter hat dem alleinstehenden Greis, einem ehemaligen Kapellmeister, erst im Haushalt geholfen, und ihn später, als er sehr altersschwach war und nicht mehr laufen konnte, zu sich ins Haus geholt und bis zu seinem Tod gepflegt. Busch-Starker, deren Markenzeichen es ist, Porträts nach fotografischen Vorlagen zu gestalten, bat den Hochbetagten um eine Aufnahme. Zwei Tage später starb er, 96 Jahre alt.

Am Freitag wird die Aussegnungshalle am Geretsrieder Waldfriedhof erneut zur Galerie. Das Thema ist "Dünnhäutig". Die sprichwörtlich dünne Haut, die trauernde Menschen haben, macht durchlässig für Kunst: Sie kann trösten und begleiten. Oder zum Nachdenken anregen, etwa den Friedhofsspaziergänger. 40 Werke - vor allem Bilder und Skulpturen - sind in der Halle, im Gang und in einem Nebenraum zu sehen. Es sind viele regionale Künstler mit bekannten Namen vertreten: Elisabeth Biron von Curland, Otto Süßbauer, Hans Neumann oder der ehemalige Geretsrieder Kunstlehrer Wolfram Weiße.

"Ultramarin" lässt Raum für Interpretationen

Während manche Kunstwerke eng mit dem Thema verknüpft sind, wie das Bild "Tiefe Wunden" von Katharina Andrée, die Skulptur "Träne" des verstorbenen Bildhauers Hans Kastler oder die "Wirbelsäule" von Claudia Schneider, bei der einem natürlich tausend Gedanken zum (in)stabilen Rückgrat des Menschen einfallen, lassen andere großen Interpretationsspielraum. Wie die beiden "Ultramarin" betitelten Bilder von Michael Eckle, bei denen eben hauptsächlich die Farbe Blau zu sehen ist.

Anita Zwicknagl vom Kulturamt der Stadt Geretsried, das die Ausstellung organisiert hat, findet die große Bandbreite der Kunstwerke gut. "Wir sind keine Galerie, die entscheidet, welches Bild reinkommt und welches nicht", sagt sie. "Das Spannende für uns ist, was der Künstler unter dem Thema 'Dünnhäutig' versteht." Ideengeber der Ausstellung, die zum dritten Mal an diesem Ort stattfindet, ist der evangelische Pfarrer Georg Bücheler. "Der immer stärker wachsende Druck und das Gefühl, immer mithalten zu müssen, machen die Menschen zunehmend dünnhäutiger", ist seine Erfahrung aus dem Alltag. Daraus entwickelte er das Leitmotiv, und darüber spricht er auch bei der Eröffnung am Freitag.

Der Künstler Ernst Grünwald aus Ammerland ist zum ersten Mal dabei. Ihn hat die Besonderheit des Raums gereizt. "Es ist ein Grenzbereich, denn man kommt hierher, um sich zu verabschieden", sinniert er. "Und gleichzeitig geht einem so viel durch den Kopf, was man noch alles hätte sagen können und wozu man nie mehr Gelegenheit hat." So zeigen seine zwei Zeichnungen, die er außer einer Skulptur mitgebracht hat, die unbewältigten Konflikte zwischen zwei Menschen.

Dass der Aussegnungsraum zur Kunsthalle wird, ist für die Geretsrieder kein Problem. "Es gab noch nie negative Reaktionen", sagt Zwicknagl. "Die Leute hier sind tolerant und aufgeschlossen gegenüber Neuem." Im vorigen Jahr hätten Besucher es richtig schade gefunden, als die Ausstellung wieder vorbei war.

Ausstellung "Dünnhäutig", Waldfriedhof Geretsried, Adalbert-Stifter-Straße 53; Vernissage Freitag, 18. Mai, 18 Uhr; Einführung von Pfarrer Georg Bücheler, musikalische Begleitung von Anna-Theresa Buxbaum, Violine, und Johannes Buxbaum, Orgel; geöffnet Montag bis Freitag, 8.30 bis 12 Uhr, Montag bis Donnerstag, 14 bis 16 Uhr; bis 31. August. Es wird um Rücksicht gebeten, falls in der Besuchszeit eine Beerdigung stattfindet.

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