Missbrauch in Korntal:Kindheit im Risikoraum

Brüdergemeinde Korntal

Aufarbeiten, was hinter diesen Mauern geschah: das Kinderheim der Brüdergemeinde Korntal.

(Foto: Daniel Naupold/dpa)

Hunderte Zöglinge wurden in der evangelisch-pietistischen Gemeinde Korntal Opfer von Gewalt. Die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle war langwierig und demütigend.

Von Matthias Drobinski, Stuttgart

Vier Minuten hat Detlev Zander jetzt. Vier Minuten, wo doch so viel zu erzählen wäre über diese Kindheit mit Demütigungen, Schlägen, Vergewaltigungen; wo er doch reden müsste über die Zeit, wo die schlimme Erinnerung wiederkehrte und er beschimpft wurde, weil er darüber redete, wo er selber in Wut und Zorn die Fassung verlor. Die vier Minuten Redezeit im Konferenzraum eines Stuttgarter Hotels hat er sich erkämpft; hat sich, bis es so weit ist, hinter dem Tablet verschanzt und filmt, wischt sich den Schweiß von der Glatze. Aber er hat sich im Griff, seit er Anfang des Jahre in der Klinik war, nach dem Zusammenbruch. Sie haben ihn wieder aufgerichtet und gut eingestellt.

"Heute ist ein schwarzer Tag für die Brüdergemeinde Korntal", sagt er, "denn jetzt haben wir es Schwarz auf Weiß: Wir haben nicht gelogen." Vor vier Jahren hat Detlev Zander die Geschichte seiner Kindheit im Kinderheim Hoffmannhaus der evangelisch-pietistischen Brüdergemeinde veröffentlicht. Als 2010 die Übergriffe in der katholischen Kirche und der Odenwaldschule publik wurden, hatte ihn die Erinnerung wieder eingeholt, die er, der gestandene Krankenpfleger, so lange verdrängt hatte. Er wurde zuerst als Lügner hingestellt, doch dann tauchten immer mehr ehemalige Zöglinge auf und bestätigten Zanders Geschichten. Da war die sadistische Tante G., die in ihrer "Rotkehlchengruppe" die Kinder windelweich schlug und sie zwang, Erbrochenes wieder zu essen. Da war der Hausmeister, der immer Jungs abholte, weil er mit ihnen angeblich Fahrräder reparieren wollte. Da war die Zwangsarbeit, waren die prügelnden Erzieher, ohne jede Ausbildung, aber beseelt von der Idee, den Kindern den Teufel austreiben zu müssen.

Und so sitzen jetzt vorn auf dem Podium die frühere Frankfurter Richterin Brigitte Baums-Stammberger und der Marburger Erziehungswissenschaftler Benno Hafeneger und präsentieren ihren Aufklärungsbericht; er enthält die Geschichten von 105 ehemaligen Heimkindern und eine umfangreiche Analyse der Akten. Bis zu 300 Kinder seien Opfer von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt geworden, sagen sie, 81 Täter seien benannt worden, acht könne man als Intensivtäter ansehen. Eine interne Kontrolle habe es so wenig gegeben wie eine funktionierende Heimaufsicht; es habe zwar auch Anzeigen und Gerichtsverfahren gegeben, oft seien die Taten vertuscht worden. "Wie so viele Kinderheime in dieser Zeit waren die Korntaler Einrichtungen für Kinder ein Risikoraum", sagt Hafeneger; "die Kinder galten als verwahrlost, frech und renitent, das musste ihnen mit Härte ausgetrieben werden." Hinzu sei noch das Gottesbild der 1819 gegründeten Gemeinschaft gekommen: "Es war das Bild eines strengen, strafenden Gottes." Der aber wegsah, wenn der Hausmeister sich wieder ein Kind holte.

Man spürt: Es ist ein großer Tag für Detlev Zander, das stille Kind von damals mit der dicken Hornbrille, der dem Hausmeister sagte: Nimm mich, als der sich an seinen sensiblen Freund heranmachte. Der Freund brachte sich dann doch um, er ist einer von vielen. "Ohne mich gäbe es das hier nicht", sagt Zander, und alle nicken. Er dankt den Aufklärern und auch Klaus Andersen, dem weltlichen Vorsteher der Gemeinde, der mit auf dem Podium sitzt - für seinen Mut, sich auch gegen Widerstände in der Gemeinde den Taten zu stellen. Er sagt aber auch: "Es braucht noch eine Aufarbeitung des Aufarbeitungsprozesses."

Es war nämlich ein weiter und demütigender Weg bis zu dem Bericht, der da an diesem Donnerstag vorgestellt wird. Klaus Andresen, erst seit 2011 Gemeindevorsteher, hatte zunächst die Erziehungswissenschaftlerin Mechthild Wolff mit der Aufarbeitung beauftragt, aber bald hatten sich Wolff und die Betroffenen überworfen. "Sie war sehr unsensibel", sagt Zander; so habe sie ihn mit Spitznamen wie "Knalltüte", "Überraschungsei" oder "Krawallbürste" bedacht, "sie fand das witzig, ich verletzend". Andere, die von Hartz IV lebten, ärgerte es, dass Frau Wolff über den Fortgang ihres Häuslebaus berichtete. Die Betroffenen zerstritten sich, die Aufarbeitung endete in Misstrauen, Schreiereien, bitteren Vorwürfen. "Eine Katastrophe", sagt Ursula Enders, die Mitbegründerin der Beratungsstelle "Zartbitter", die Zander begleitet, "ein solches menschliches Versagen habe ich noch nicht erlebt." Immer noch gibt es keine allgemein anerkannten Standards der Aufarbeitung.

"Er schrie uns an, er müsse den Satan aus uns heraustreiben."

Zander hätte gerne noch viele Fragen gestellt im Konferenzsaal des Hotels - drei Stunden hatte ein paar Tage vor der Pressekonferenz das Gespräch mit ihm in der Redaktion der Süddeutschen Zeitung gedauert. Warum wurden nur die Akten und Berichte bis Ende der 80er Jahre aufgearbeitet? Der jüngste bekannt gewordene Übergriff stammt aus den frühen 2000er Jahren. Warum finden sich immer noch die Namen der Gewalttäter auf den Ehrentafeln der Gemeinde; warum gibt es keinen Gedenkort für die Opfer? "Es muss auch konsequenter nach der Rolle der Religion und der Kirche gefragt werden", sagt Zander. Er hat einen Brief an den württembergischen Landesbischof Otfried July geschrieben - dass der ihm freundlich ein Seelsorgegespräch angeboten hat, ist Zander zu wenig. Zu gut ist ihm Pfarrer Fritz Grünzweig in Erinnerung, der von der Landeskirche für seinen Dienst in Korntal freigestellt wurde und hohes Ansehen in der Kirche genoss. "Er schlug uns und rastete manchmal regelrecht aus", erzählt Zander, "er schrie uns an, er müsse den Satan aus uns heraustreiben, wir seien Teufelsbrut".

Viel zu viel ist das alles für vier Minuten Redezeit. Vorsteher Andersen ist dran, er bittet um Entschuldigung, verspricht, alles zu tun, um die Würde der Betroffenen wiederherzustellen. Es wirkt echt, aber mancher aus dem Kreis der ehemaligen Heimkinder im Publikum schnaubt empört. Bis Juni 2020 können sich Betroffene melden; die Gemeinde zahlt zwischen 5000 und 20 000 Euro; dass Zander 20 000 Euro erhalten hat, macht ihn nicht bei allen Mitbetroffenen beliebt.

Doch jetzt drängen sich erst einmal alle aufs Gruppenfoto - ein bisschen Versöhnung an diesem Mittag.

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