Friedenspreis des Deutschen Buchhandels:Die Künder des "Kulturellen Gedächtnisses"

Friedenspreis des Buchhandels an Aleida und Jan Assmann

Längst ist der Begriff des "kulturellen Gedächtnisses" in die Alltagssprache eingegangen. Geprägt wurde er vom Forscherehepaar Jan und Aleida Assmann.

(Foto: dpa)

An was erinnert sich eine Gesellschaft und was vergisst sie? Es sind sehr aktuelle Fragen, die die Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann in ihren Schriften stellen.

Von Lothar Müller

Wie entstehen Begriffsprägungen in den Wissenschaften? Wenn Fragen dringlich werden. Der Ägyptologe Jan Assmann und seine Frau, die Anglistin Aleida Assmann, haben vor allem einen Begriff ins Zentrum ihrer Arbeiten gestellt, den des "kulturellen Gedächtnisses". Wenn ihnen jetzt gemeinsam der mit 25 000 Euro dotierte Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugesprochen wurde, dann nicht, weil sie ein Autorenduo wären. Das sind sie trotz aller Zusammenarbeit nicht. Sondern weil das Konzept des "kulturellen Gedächtnisses" die Schnittmenge ihrer Arbeiten bildet.

Es sind vor allem zwei dringliche Fragen, aus denen dieses Konzept hervorgegangen ist, in Büchern wie Jan Assmanns "Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen" (1992) oder Aleida Assmanns "Erinnerungsräume" (1999). Die eine ist historisch-politischer Natur. Sie zielt auf die kollektive Dimension der Erinnerung an die Vergangenheit, aber auch des Vergessens, auf die Geschichtsmächtigkeit der Art und Weise, wie historische Erfahrungen gespeichert und immer wieder neu belebt werden.

Jan Assmann ist 1938 geboren, ein Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, Aleida Assmann 1947, sie zählt zu den Nachkriegskindern. Es ist nicht weit vom Konzept des "kulturellen Gedächtnisses" zur "Erinnerungskultur", für das in der alten Bundesrepublik die Rede Richard von Weizsäckers zum 8. Mai 1945 im Jahr 1985 einer der Einsatzpunkte war und die nach 1989/90 das Selbstverständnis des wiedervereinigten Deutschland prägte.

Wie die historisch-politische ist auch die zweite dringliche Frage, auf die Jan und Aleida Assmann reagiert haben, Teil ihrer Generationserfahrung. Es ist die Frage nach den Medien der Erinnerung, ihrer Stabilität wie ihrer Fragilität. Ihre Dringlichkeit erhält sie durch die Dynamik der Digitalisierung. Beide haben ihre akademischen Laufbahnschriften noch weitgehend in der analogen Welt geschrieben, beide haben auf die Digitalisierung des Schreibens, Lesens, Archivierens, Unterrichtens mit immer neuen Brückenschlägen zwischen ihren historischen Gegenständen und der Gegenwart reagiert.

Beispiele hierfür sind das Interesse des Ägyptologen Jan Assmann am Stein als Material und Medium der Grabinschriften und des Totenkultes im alten Ägypten und das Interesse der Anglistin an den Reliquien des Mittelalters und an der Mythologisierung des Mediums Buch in der Frühen Neuzeit, etwa bei John Milton. "Stein und Zeit", der Titel von Jan Assmanns Buch aus dem Jahr 1991, klingt wie eine kalauernde Parodie auf Heideggers "Sein und Zeit". Es handelt sich aber, im Blick auf das alte Ägypten, um eine seiner zentralen Arbeiten zum "kulturellen Gedächtnis", um eine Modellstudie zur Bedeutung der Zeit als Dauer und zur Grabinschrift als einem der Entstehungsorte der Literatur.

Und wenn Aleida Assmann über die Zukunft der Bibliotheken spricht, über die Ankunft der reitenden Boten der Vergangenheit in der Gegenwart durch Retrodigitalisierung, dann entdeckt sie im Rückblick auf die Medienrevolution um und nach 1500 eigentümliche Überlagerungen. Bei John Milton und seinen Zeitgenossen sieht sie in der Beschwörung der Bibliothek als Schrein die Bücher wie Ampullen beschrieben, die mit geistiger Essenz gefüllt sind. Diese Ampullen rivalisieren mit den kostbaren Reliquiaren des Mittelalters. In ihnen ist die geistige Essenz von den Körpern der Autoren abgelöst, selbstbewusst tritt der Bücherhandel an die Stelle des Reliquienhandels.

Sie waren dabei Teil einer Aufbruchsbewegung

Der französische Soziologe Maurice Halbwachs hatte das "kulturelle Gedächtnis" als Dimension moderner Gesellschaften bereits kurz vor dem Zweiten Weltkrieg ins Auge gefasst. Jan und Aleida Assmann haben seine Ansätze in ihren Disziplinen aufgegriffen. Sie waren dabei Teil einer Aufbruchsbewegung, in der sich die Geisteswissenschaften als "Kulturwissenschaften" neu zu begründen und zu erweitern suchten. Längst ist das "kulturelle Gedächtnis" in die Alltagssprache und in die politische Rhetorik eingegangen, vorbei sind die Zeiten, in denen die "Erinnerungskultur" in der Bundesrepublik ein Konsensbegriff war. Bereits 2013 erschien Aleida Assmanns Intervention "Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur".

Zu Beginn seines Buchs über Mozarts "Zauberflöte" (2005) schildert Jan Assmann, wie Ingmar Bergman in seiner Verfilmung der Oper die Ouvertüre inszeniert. Immer wieder zeige die Kamera Gesichter aus dem Publikum, in einer erstaunlichen Vielfalt von Reaktionen auf das Gehörte. Es sind europäische Gesichter dabei und außereuropäische, junge und alte, hingerissene und gelangweilte. Doch während die Musik spielt, erscheinen diese Gesichter nicht nur in ihrer Vielfalt, sondern auch zugleich in einer alles überspannenden Gemeinsamkeit: "Alle, das ist wohl Bergmans Botschaft, sind von diesem Menschheitswerk gemeint und in ihm angelegt."

Beiträge zur aktuellen Debatte über das Gewaltpotenzial der Religionen

Die Kultur als Medium der Versöhnung und des Dialogs ist ein Lieblingsthema aller Sonntagsredner. Jan Assmann hat 1990 den Band "Kultur und Konflikt" herausgegeben. Denn das "kulturelle Gedächtnis" kann Gesellschaften wie Nationen nicht nur stabilisieren, es kann sie ebenso spalten, ihre inneren und äußeren Konflikte anheizen. Mit seiner Kritik der monotheistischen Religionen und ihrer Vitalisierung absoluter Wahrheitsbegriffe in "Die Mosaische Unterscheidung" (2003) hat Jan Assmann zur aktuellen Debatte über das Gewaltpotenzial der Religionen beigetragen. Wenn er und Aleida Assmann am 15. Oktober zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis entgegennehmen, werden hoffentlich nicht nur Sonntagsreden gehalten.

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