James Joyce:Das maßlose Buch

John Kidd Feeds Pigeons At Boston University

John Kidd beim Taubenfüttern, während einer seiner häufigen Streifzüge über den Campus der Uni Boston.

(Foto: Justine Ellement/The Boston Globe via Getty Images)

An diesem Samstag wird wieder der Bloomsday gefeiert. Und einer der furiosesten Kenner von James Joyce und seinem "Ulysses" ist wieder aufgetaucht: John Kidd.

Von Willi Winkler

Drei Jahre brauchte er, um sich damit auseinanderzusetzen, er langweilte sich manchmal furchtbar, murrte und fluchte bei der Lektüre und musste doch bewundern, was er da las: "Ich werde wohl nie genau wissen, ob es mir wirklich gefallen hat, zu sehr hat es an Nerven und Hirn gezehrt." Am Ende muss der Fachmann zugeben, dass hier der Laie mehr begriffen hatte als er: "Die vierzig Nonstop-Seiten am Schluss des Buches sind eine wahre Kette psychologischer Kostbarkeiten. Vermutlich weiß des Teufels Großmutter derart viel über die wahre Psychologie der Frau, ich wusste es nicht."

Des Teufels Großmutter hieß mit bürgerlichem Namen James Joyce, und das Buch, über dem der Schweizer Psychoanalytiker C. G. Jung voller Staunen verzweifelte, war der "Ulysses". Es war ein Buch, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte: angeblich eine Kontrafaktur von Homers Odyssee, nur dass da ein Anzeigen akquirierender Ahasver namens Leopold Bloom auftritt, auf Irrfahrt keineswegs in den Lagunen des Mittelmeers, sondern in den Straßen Dublins, und er braucht auch keine zehn Jahre, um heimzufinden zu seiner Penelope, das Buch umfasst gut aristotelisch nur einen einzigen Tag, den Joyce auf den 16. Juni 1904 gelegt hat, den Tag, an dem sich das Zimmermädchen Nora Barnacle so eng an den bildungshungrigen Jesuitenschüler band, dass sie ihm in die Armut und das Elend des Exils folgte.

"Ulysses" erschien aber nicht an diesem, später als Bloomsday gefeierten, Datum, sondern am 2. 2. 1922, am vierzigsten Geburtstag des symbolsüchtigen Autors. Eine gelehrte Deutung war bereits in Auftrag gegeben, ohne die der Vollgenuss des Werkes nicht möglich sein sollte. Er habe so viele Rätsel und Geheimnisse in den "Ulysses" gepackt, dass er damit die Professoren auf Jahrhunderte hinaus beschäftigen werde, sagte der Wundermann einmal und verriet zugleich das Wichtigste: "Doch wie anders sollte man sich die Unsterblichkeit sichern?"

Noch zwei Tage vorher hatte er letzte, allerletzte Korrekturen an den Drucker in Dijon durchgegeben, der die ersten beiden Exemplare dann auf den Zug nach Paris gab. Am Gare de Lyon wartete die ergebene Förderin Sylvia Beach, nahm sich ein Taxi und brachte dem Autor das fertige Werk. Es gab ein Bankett zur Doppelfeier des Tages, Joyce saß am Kopfende der Tafel, ganz der pater familias, der Mann, der dieses maßlose Buch der Bücher (dem dann das Buch aller Bücher, "Finnegans Wake", folgen sollte) endlich vollendet hatte. Als wollte er Sigmund Freuds schlichteste Theorien illustrieren, lag der "Ulysses" während des ganzen Essens unter seinem Stuhl und wurde erst nach dem Dessert und mit neuerlich gewaschenen Händen ausgepackt und für die Bewunderung auch der Restaurantgesellschaft freigegeben.

An Bewunderern fehlte es nicht, Ezra Pound, T. S. Eliot und, zögernd, Virginia Woolf sangen bald sein Lob; sogar zu einer Begegnung mit Marcel Proust kam es, der seine "Recherche" selber erst in den Druckfahnen kreiert hatte. Joyce bewahrte sich einen knäbischen Humor, in dem ihn später nur noch sein Abendschüler Arno Schmidt übertreffen sollte. Der "Ulysses" war aber auch ein Buch der Schmerzen: Joyce litt unter beginnender Hornhauteintrübung, er hatte die intrikatesten Wortspiele diktieren müssen und wurde langsam so blind, wie es angeblich der Sänger Homer gewesen war. Seine Frau hatte genug Schriftstellergattinnenmühsal ertragen, sie packte die Kinder und fuhr zurück nach Irland; nur der Ausbruch des Bürgerkriegs brachte sie zurück. Das Schreiben ging weiter, das Leiden auch.

Im Nährbeet der hunderttausend Wortspiele und Zoten entspann sich allmählich die Joyce-Industrie, die nicht wenig von den fehlerhaften Ausgaben profitierte. Was hatte der erste Zensor Pound vorsichtshalber weggestrichen, was findet sich nur im Raubdruck, wie ist jenes Diktat von Joyce zu lesen und diese Bleistiftkorrektur? Der Streit geht in bester shandyesker Manier bis zur Größe und Schwärze von Punkten.

In der frühen computergestützten Texterfassungseuphorie Anfang der Achtziger entstand an der Münchner Universität bei dem Anglisten Hans Walter Gabler eine so stümperhafte Version, dass sie in der New York Review of Books ein Außenseiter mit dem Furor des allseits gebildeten Autodidakten und den besten Argumenten auseinandernehmen konnte. Dieser John Kidd wusste es besser: Er hatte nicht nur jede der existierenden, mindestens achtzehn Ausgaben des "Ulysses" studiert, er begnügte sich nicht mit schlechten Fotokopien wie die Münchner, sondern kämmte sämtliche Archive durch, hielt jedes überlieferte Blatt Papier ans Licht und las einfach alles, was auch nur entfernt mit Joyce zu tun hatte. Die Gabler'sche Version, erst pflichtschludrig als Optimum der Editionsphilologie gefeiert, wurde von den Publikumsverlagen, die sich darauf eingelassen hatten, für ein paar Jahre zurückgezogen. Ein Mann von Ehre hätte danach seinen Lehrstuhl verlassen und beispielsweise das weit edlere Schreinerhandwerk erlernt. Stattdessen verschwand Kidd.

Ein Reporter der "New York Times" spürte den Joyceaner John Kidd in Rio de Janeiro auf

Die Bostoner Universität hatte ihm Fördermittel und ein ganzes Institut zur Verfügung gestellt, ein Verlag wartete geduldig auf die neue, die bessere, die zuverlässige, die Ausgabe von Kidds letzter Hand, aber der Mann war zu beschäftigt, er musste die Tauben auf dem Campus füttern und sich um verletzte Tiere kümmern. Dann tauchte er unter. Vielen galt er als tot.

Doch Kidd lebt. Ein Reporter der New York Times hat ihn jetzt in Rio de Janeiro aufgespürt. Dick ist er geworden, er hat lange Haare wie der Bassist einer Rockband aus den Siebzigern, die er nach musikalischen Differenzen verlassen hat, und er hat nichts von seinem Furor eingebüßt. Inzwischen weiß er über Joyce noch besser Bescheid und hat noch viel mehr Fehler im Gabler'schen "Ulysses" gefunden. Er könnte der Alptraum der Joyce-Industrie sein, wenn er es nur wollte. Doch offenbar hat nicht nur das Exil, es hat auch die Verbesserungswut an Kidds Hirn und Nerven gezehrt. Er hat Portugiesisch gelernt und arbeitet an einer Übersetzung des populären brasilianischen Romans "Die Sklavin Isaura", aber so, als müsste sie von Docteur Raymond Queneau abgenommen werden. Arno Schmidt hat dieses Unglück in einem Wort zusammengefasst: "Verkenne dich selbst!"

"Der Mann ist vermutlich ein Genie, aber er hat wirklich eine schmutzige Phantasie!", soll Nora über ihren Mann gesagt haben, der den "Ulysses" ihr zur Feier mit Molly Blooms innerem Monolog beendet, seiner treulosen Penelope. In Hans Wollschlägers Übersetzung enden diese vierzig "Nonstop-Seiten" so: "und dann hat er mich gefragt ob ich will ja sag ja meine Bergblume und ich hab ihm zuerst die Arme um den Hals gelegt und ihn zu mir niedergezogen dass er meine Brüste fühlen konnte wie sie dufteten ja und das Herz ging ihm wie verrückt und ich hab ja gesagt ja ich will Ja."

Wer Herz und Hirn und alle Nerven noch beisammen hat, wozu der "Ulysses" in gleich welcher Textgestalt erheblich beitragen kann, wird heute mindestens ein Glas auf den großen irischen Frauenversteher trinken.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: