Ökosysteme und Algorithmen:Ein Wald, der sich selbst abholzt und verkauft

Drohne über Wald

Der selbstverwaltete Wald lässt Drohnen durch sich hindurchschwirren, die Saatgut verteilen.

(Foto: SWR)

Drohnen verteilen Saatgut und Ökosysteme handeln mit Bitcoins, um sich selbst zu verwalten. Die Utopie einer Berliner Forschungsgruppe rüttelt an unserem Naturbegriff.

Von Maximilian Sippenauer

Ihr Telefon führt sie durchs Unterholz. Es ist Weihnachten. Sie brauchen einen Baum. Ihr Smartphone hatte das geahnt und den Perlacher Forst empfohlen. Günstig, sagt es, unbehandelt. Sie erreichen eine kleine Tanne, ihr Telefon piept, und sie fällen das Bäumchen. Automatisch wandern ein paar Krypto-Coins aus ihrer digitalen Brieftasche an die des Perlacher Forsts. Direkt an den Wald. Nicht an eine Verwaltung oder Försterei. Nein, der Wald ist seit Kurzem sein eigener Herr. Er gehört sich selbst. Organisiert sich durch einen Algorithmus im Blockchain-Netzwerk Ethereum, interagiert mit der Außenwelt via Smart Contracts. Der Wald ist ein selbständiger und rechtlich geschützter, ökonomischer Partner in dieser kybernetischen Zukunft.

Wie macht der Wald das? Der Wald erhebt Daten über sich, kauft Satellitenbilder, auf denen er erkennt, welche seiner Kiefern krank sind und ausgeschnitten gehören. Er lässt Drohnen durch sich hindurch schwirren, die, wo nötig, Saatgut verteilen. Er hat einen Jäger engagiert, der sich um das Damwild kümmert, und einen Anwalt, der für ihn einen Rechtsstreit mit der Stadtverwaltung führt. Es geht um eine Umgehungsstraße. Ein Waldleben ist nicht einfach. Um sich aufzuforsten und artenreicher zu werden, muss er Schulden für den Selbsterwerb, Gehälter und laufende Serverkosten abstottern. Dafür verkauft er sein Holz.

Im Anthropozän ist eine Natur denkbar, die als virtuelle Gesellschaft von Ökosystemen in einem nicht hackbaren, digitalen Blockchain-Netzwerk repräsentiert wird. Technisch möglich soll das durch "Deep Learning Systems" werden, also Algorithmen, die lernen und anpassungsfähig sind. Die Natur, so die Idee, gewinnt Einfluss über sich selbst zurück. Natürlich nach zuvor von Menschenhand programmierten Parametern. Das Konzept wird im Rahmen der Frage nach dem Begriff einer neuen Wildnis unter Naturwissenschaftlern gerade viel diskutiert. Diese Wildnis definiert sich nicht mehr über Unberührtheit, sondern über menschliches Eingreifen und technische Augmentierung.

Der Wald verwaltet sich selbst, Ökosysteme sollen autonom werden

Dank der Fortschritte in der Satelliten- und Drohnentechnik gibt es nicht nur ganz neue Wege zur Erhebung und Analyse von Biodaten, sondern auch zur Intervention auf schwer zugänglichem Gelände. Gleichzeitig versprechen gerade etliche Start-ups, wie etwa das Regen Network, dass sich augmentierte Ökosysteme mittels der Blockchain-Technologie nicht nur nachhaltiger, sondern auch wirtschaftlich effizient gestalten lassen.

Die Berliner Forschungsgruppe "terra0", gesprochen Terra null, geht mit ihrem Konzept eines sich selbst verwaltenden Waldes noch weiter. Ökosysteme sollen autonom werden. In ihrer biokybernetischen Utopie erfährt die menschlich überformte Natur eine zweite, technisch-digitale Überformung. Damit entsteht aus der Grundfrage des Anthropozän-Denkens, was Natur ist, das Anschlussproblem, ob Natur so etwas wie einen Willen oder ein Telos hat. Was will ein Wald? Und lässt sich dieser Wille digital repräsentieren?

Das Kernteam von Terra 0 besteht aus drei jungen Programmierern. In ihrem weiß gefliesten Büro steht ein großes Metallregal mit hundert schwarzen Plastikblumentöpfen. Darauf ist eine Kamera gerichtet, die alle zehn Minuten klickt. "Das ist unser Flower-Token-Projekt," erklärt Max Hampshire. "Wir züchten Dahlien, die als Token im Ethereum-Netzwerk erworben und gehandelt werden können. Die Frage ist: Wie lassen sich natürliche Organismen automatisch virtuell darstellen, ohne dass jemand hingeht und das überprüft." Das Regal leuchtet in violettem Neon. Sie ist erstaunlich steril, die Zukunft der Natur.

Terra 0 startete vor knapp zwei Jahren als Kunstprojekt. "Wir studierten damals Medienkunst an der UdK Berlin," sagt Paul Kolling. "Unsere Ausgangsfrage war, wie kann ein Smart Contract ein Ökosystem managen?" Smart Contracts sind programmierte, internetbasierte Verträge, die selbständig die Erfüllung von Vertragsbedingungen prüfen und sobald diese eintreten, automatisch den anderen Teil des Vertrages umsetzen. Im Zeitalter von Krypto-Währungen und dezentraler Blockchain-Netzwerke wie Bitcoin oder Ethereum wird es damit prinzipiell möglich, dass Geschäfte direkt und ohne Mittler wie Banken geschlossen werden können. Dies gilt nicht nur für Menschen, sondern auch für Dinge. "Technisch beziehen wir uns auf Mike Hearn," erklärt Kolling. Der ehemalige Google-Entwickler präsentierte schon 2011 ein Konzept, wonach Autos sich selbst besitzen. Als autonome Taxis sollten diese genug Geld verdienen, um ihre Sprit- und Wartungskosten zu tilgen. Hierzu brauche es noch nicht mal künstliche Intelligenz, sondern nur ein sehr gutes Programm. "Dieses Prinzip übertrugen wir auf den Wald, wobei ein Ökosystem natürlich ungleich komplexer ist."

Die Krux an einem selbstverwalteten Wald

Mit ihrem zunächst rein hypothetischen Projekt zogen Terra 0 auf Tech-Messen und in der Start-up-Branche viel Aufmerksamkeit auf sich. "Alle waren begeistert, nur investieren wollte keiner. Wir hatten eine detaillierte Road-Map zur technischen Umsetzung, aber keinen Business-Plan." Die Krux an einem selbstverwalteten Wald: Niemand außer dem Wald verdient daran. Trotzdem stellte ein Waldbesitzer Terra 0 ein kleines Waldstück zum Praxistest zur Verfügung. Doch das Projekt tat sich schwer. "Wir versuchten Smart Contracts auf der Basis von hochaufgelösten Satellitenbildern zu programmieren," meint Paul Seidler, der dritte Forscher. "Diese Aufnahmen waren aber so teuer, dass wir eine Waldfläche von mindestens fünf Hektar gebraucht hätten, damit der Wald diese aus eigenen Ressourcen hätte finanzieren können."

Den finanziellen Problemen folgten aber auch technische Fragen. Welche Menge an biobasierten Daten ist notwendig, damit der Wald die ihm inhärenten Ziele erreichen kann? Wie lassen sich diese innerhalb eines dezentralen Netzwerks, also eines Ortes ohne menschliche oder institutionelle Überprüfung, verifizieren? Diesen Detailproblemen geht Terra 0 nun als Forschungsgruppe nach. Aber lässt sich Natur wirklich von einem Algorithmus steuern?

"Tatsächlich ist unser Konzept heute noch nicht in Gänze umzusetzen. Das liegt am technischen Umfeld, aber auch an rechtlichen und moralischen Fragen," sagt Kolling. Die technischen Probleme, so glauben er und seine Kollegen, ließen sich lösen, doch was den zweiten Punkt angehe, sei noch viel Überzeugungsarbeit nötig. "Mit dem Konzept eines augmentierten Waldes, der sich selbst verwaltet, provozieren wir eine völlig neue Debatte zwischen naivem Technikglauben und mythischem Naturbegriff."

Auf der Homepage von Terra 0 wird ein Vers von Richard Brautigan zitiert, der übersetzt etwa so lautet: "Ich träume von kybernetischen Auen, auf denen Säugetiere und Computer in einvernehmlich programmierender Harmonie zusammenleben; gleich purem Wasser, das auf reinen Himmel trifft." Brautigans Gedicht war Ausdruck eines biokybernetischen Optimismus, der bis in die Achtziger anhielt, um dann spektakulär zu scheitern. Die damalige Ökologie begriff Natur als ein in sich geschlossenes, stabiles Kreislaufsystem, das sich selbst reguliert und auf ein Gleichgewicht abzielt. Die Idee der Biokybernetiker war es, diese Systeme mithilfe von Computertechnologie virtuell zu simulieren und damit Ökosysteme zu steuern.

Ökosysteme sind hyperkomplex und streben nicht grundsätzlich nach einem Gleichgewicht

"Dahinter stand ein großer Trugschluss", meint Kolling und erzählt die Geschichte des Systemökologen George van Dyne. Dyne startete in den Siebzigern das Grassland Project, den über zehn Jahre laufenden Versuch, das Ökosystem einer riesigen Wiese kybernetisch darzustellen. Dyne sammelte Unmengen an Daten. Er ließ Felder absaugen, um die Insekten zu zählen. Praktikanten folgten Antilopen, protokollierten jeden Bissen Schachtelhalm und schauten Bisons in den Magen. Doch je mehr Daten Dyne ins System einpflegte, desto chaotischer wurde es.

Das zeigte, dass Ökosysteme hyperkomplex sind und sich nicht vollständig abbilden lassen. Es widerlegte aber auch die unhinterfragte Grundmaxime, dass Ökosysteme nach einem Gleichgewicht streben. Tatsächlich vollzog sich im Anschluss in der Biologie eine kopernikanische Wende. Man interpretierte Ökosysteme nicht länger als geschlossene Kreisläufe, sondern als dynamische Systeme, die permanenten Fluktuationen ausgesetzt sind. Damit war der biokybernetische Traum von einer Natur, die sich durch Computertechnologie regulieren lässt, vorerst gescheitert.

Abseits der Biologie dominiert noch heute dieses Bild einer äquilibristischen Natur. Es ist als Metapher tief eingeschrieben in unsere Kultur. Die Vorstellung der Natur als eines geschlossenen Kreislaufs war so einflussreich, dass die französischen Physiokraten es sogar als Wirtschaftsprinzip auf den Markt übertrugen.

Die Idee eines sich selbstregulierenden Marktes geht zurück auf eine Fehlkonzeption der Natur. Bis heute ist unser geläufiger Naturbegriff von der metaphysischen Annahme geprägt, dass Natur ein harmonisches System sei. Ein System, das der Mensch zerstört. "Deshalb reagieren manche Leute auf unser Projekt richtig aggressiv", berichtet Kolling. "Wir würden den Wald zwingen, seine eigenen Bäume zu fällen. Das sei unmenschlich. Aber wer ist das, der Wald? Wir haben es hier mit anthropomorphen Zuschreibungen zu tun."

Das Anthropozän beginnt im Kopf, dort wo die Natur anhand der Schablone des Menschen interpretiert wird: "Hier in Deutschland gilt der Wald als Refugium, als heiliger Ort echter Naturerfahrung. Aber seit dem Entstehen der Forstwissenschaft wurde jedes Stück Wald in Deutschland abgeholzt und neu bepflanzt", meint Seidler. Ohne Försterei oder aktiven Naturschutz seien die Wälder heute nicht mehr überlebensfähig. "Wenn wir grobe Leitlinien in einem Algorithmus festlegen und dieser versucht, sie immer besser umzusetzen, dann befreien wir den Wald auch von dieser konzeptionellen Überformung." Der Natur zu ihrem Recht zu helfen, heißt, ihr eine eigene Stimme zu geben.

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