Kindesmissbrauch in der Kirche:Man muss es immer wieder hören

Holzkreuze

Vor acht Jahren wurde das Ausmaß der sexuellen Übergriffe in Deutschland sichtbar.

(Foto: Andreas Gebert/dpa)

Missbrauchsopfer und Kirchenvertreter treffen sich in Berlin, es ist ein harter Tag voller schrecklicher Geschichten. Diese Aufarbeitung muss weitergehen - sie braucht Druck von außen.

Kommentar von Matthias Drobinski, Berlin

Kann man das noch hören? Ist nicht schon alles gesagt und wiederholt, was über die sexualisierte Gewalt zu sagen ist, die Pfarrer, Priester, Ordensleute, Kirchenmitarbeiter Jungen und Mädchen angetan haben? Wer an diesem Mittwoch in Berlin die Geschichten der Betroffenen gehört hat, die sie auf Einladung des Unabhängigen Beauftragten der Regierung für Fälle von sexuellem Missbrauch erzählt haben, der kann nur sagen: Man muss es immer wieder hören. Man muss den Frauen und Männern ins Gesicht sehen, die weinend oder zornig berichten, wie stolz sie waren, dass der Herr Pfarrer sich für sie so sehr interessierte - oder wie sie brutal vergewaltigt wurden. Man muss die Bitterkeit und Wut derer ertragen, die von aller Welt verlassen waren. Und man muss die bohrenden Fragen stellen: nach schonungsloser Aufarbeitung, nach Anerkennung und Entschädigung für dieses Leid, nach Hilfe für die Betroffenen, Strafe für die Täter und Konsequenzen für die Institution.

Acht Jahre nachdem das Ausmaß der Übergriffe erst am Berliner Canisius-Kolleg der Jesuiten und dann überall im Land sichtbar wurde, ist das Thema längst nicht erledigt, auch wenn das mancher Kirchenvertreter hoffen mag. Im Gegenteil: Die Aufarbeitung steht am Anfang. Wenn die katholischen Bischöfe im September ihren Aufarbeitungsbericht veröffentlichen, wird das kein Abschluss sein, sondern ein Zwischenschritt.

Sicher: Die katholische und die evangelische Kirche haben in diesen acht Jahren einiges gelernt und getan. Sie haben endlich die Betroffenen angehört und Scham und Reue bekundet, sie haben (meist viel zu niedrige) Entschädigungen bezahlt, Beauftragte ernannt und Präventionskonzepte aufgelegt. Kinder und Jugendliche sind heute in kirchlichen Einrichtungen sicherer als vor zehn Jahren. Doch noch immer ist das wirkliche Ausmaß der Gewalt nicht erforscht; die Standards der Aufarbeitung bleiben oft unklar, Betroffene berichten von neuen Demütigungen, wenn sie verlangen, was ihnen zusteht. Und noch immer scheuen sich Bischöfe wie Theologen, die wahrhaft schmerzhafte Frage zu stellen: Wie sehr begünstigt die Vorstellung von der Heiligkeit der Institution und der Amtsautorität, dass Täter geschützt und Opfer alleingelassen werden? Wie sehr tragen sexuelle Tabuisierungen dazu bei, dass Verschweigestrukturen entstehen?

Strukturen des Schweigens gibt es nicht nur in den Kirchen, das hat "Me Too" gezeigt

Das ist nicht allein ein Thema der Kirchen; die "Me Too"-Debatte hat gezeigt, dass Täterschutz- und Verschweigestrukturen überall entstehen können, wo sich Institutionen unangreifbar machen wollen und angebliche Hohepriester sich selbst vergöttern. Auch deshalb ist die Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt in den Kirchen so wichtig - sie ist ein Rollenmuster für andere Bereiche. Und eben deshalb darf diese Aufarbeitung nicht einfach den Kirchen allein überlassen werden: Ohne Druck von außen gewinnen schnell jene Kräfte die Oberhand, denen die glänzende Fassade der Kirche wichtiger ist als das Leid der Opfer.

Gut also, dass Familienministerin Franziska Giffey versprochen hat, dass die Arbeit des Unabhängigen Beauftragten der Regierung weitergehen kann; sie gehört professionalisiert und politisch gestärkt. Und es braucht endlich ein Opferentschädigungsgesetz, das diesen Namen verdient. Dann könnte man diesen weinenden und zornigen Menschen endlich ohne Scham ins Gesicht sehen.

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