Resozialisierung von Straftätern:Kein "Recht auf Vergessen" für die Sedlmayr-Mörder

Walter Sedlmayr

Der Volksschauspieler Walter Sedlmayr, hier vor seinem Münchner Wirtshaus "Beim Sedlmayr", wurde 1990 ermordet.

(Foto: dpa)
  • Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat den Mördern des Volksschauspielers Walter Sedlmayr das "Recht auf Vergessen" verwehrt.
  • Die Männer, 2007 und 2008 aus dem Gefängnis entlassen, wollten ihre Namen aus Presse-Archiven getilgt sehen, sie wünschten sich eine Rückkehr in die Anonymität.
  • Trotzdem macht das Urteil klar, dass das "Recht auf Vergessen" in Zeiten des Internets große Bedeutung hat.

Von Wolfgang Janisch

Der Soldatenmord von Lebach war einer jener Medienstoffe, die jeder abscheulich findet, aber keiner verpassen will. Im Jahr 1969 überfielen zwei Männer in der saarländischen Kleinstadt ein Munitionsdepot der Bundeswehr und töten vier Soldaten. Mit den erbeuteten Waffen wollten sie und ein weiterer Helfer Geld beschaffen für ein Leben in der Südsee, mit Hochseeyacht und jenseits der Konventionen; auch Homosexualität spielte eine Rolle. Guter Stoff für eine ZDF-Doku also - aber das Bundesverfassungsgericht stoppte 1973 die Sendung, weil der Helfer darin mit Bild und vollem Namen vorkommen sollte; er stand damals vor einer vorzeitigen Entlassung. Seither steht "Lebach" für das Recht verurteilter Straftäter, nicht lebenslang am Medienpranger stehen zu müssen - im Sinne der Resozialisierung.

An diesem Donnerstag hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Mordfall Sedlmayr entschieden, einem nicht minder spektakulären Fall aus dem Jahr 1990. Die Mörder des großen Volksschauspielers, 2007 und 2008 aus dem Gefängnis entlassen, wollten ihre Namen aus den Archiven von Deutschlandfunk, Spiegel und Mannheimer Morgen getilgt sehen, sie wünschten sich eine Rückkehr in die Anonymität. Der Gerichtshof hat ihre Klage zwar abgewiesen, wie schon zuvor der Bundesgerichtshof. Doch es ist ein Urteil mit sehr viel Wenn und Aber.

Denn "Sedlmayr 2018" aus Straßburg enthält ein Update von "Lebach 1973" aus Karlsruhe, ist ja viel passiert seither. Unter anderem hat man das Internet erfunden. Was die komplizierte Frage aufwirft, wodurch das Persönlichkeitsrecht eigentlich stärker beeinträchtigt wird: durch einen Text im Online-Archiv - versteckt, aber eben dauerhaft und überall abrufbar? Oder durch eine ZDF-Sendung aus der Prä-Mediathek-Ära, aber mit der gigantischen Reichweite der 70er-Jahre? Authentische Gruselprogramme à la "Aktenzeichen XY ungelöst" hatten damals so viele Zuschauer wie in dieser Woche das WM-Aus der Deutschen.

Das Online-Archiv, so lässt sich dem Sedlmayr-Urteil entnehmen, bleibt deutlich zurück hinter einer derartigen Breitenwirkung. Hinzu kommt: Auf der anderen Waagschale liegt ebenfalls ein Grundrecht, nämlich die Pressefreiheit, die auch digitale Pressearchive schützt. Die Öffentlichkeit habe das Recht, auch über "vergangene Ereignisse und die Zeitgeschichte informiert zu werden", schreibt das Gericht.

Also Bahn frei für die Namensnennung im Fall Sedlmayr? Vorsicht ist geboten, jedenfalls in aktuellen Medienberichten. Zwar haben es die Kläger im Verfahren irgendwie auch selber vergeigt, weil sie sich vor ihrer Entlassung offensiv an die Presse gewandt hatten. Trotzdem macht das Urteil klar, dass das "Recht auf Vergessen" in Zeiten des Internets große Bedeutung hat; inzwischen steht es sogar im EU-Datenschutzrecht. Entscheidend ist hier auch der Zeitfaktor. Der könnte dazu führen, dass das Urteil, Stand heute, anders aussehen müsste. Aus Verfahrensgründen mussten die Straßburger Richter nämlich auf das Jahr 2010 abstellen. Doch nach ihren eigenen Maßstäben könnte 2018, eine Dekade nach der Entlassung und mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Mord, die Resozialisierung Vorrang haben.

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