Finale im Asylstreit:In Berlin ist jetzt fast alles möglich

Bruch der Union, der Regierung, Neuwahlen? Nur ein Sturz Merkels ist durch Seehofers Manöver unwahrscheinlicher geworden. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Stefan Braun, Berlin

Kann Horst Seehofer Innenminister bleiben?

Eigentlich ist das unvorstellbar. Zu hart und zu garstig ist der Streit; zu prinzipiell sind Seehofers Attacken gegen die Überzeugungen der Kanzlerin. Außerdem wird sein letztes Manöver, getrieben von den anderen in der CSU-Führung, auf CDU-Seite nur noch als Erpressung empfunden. Gib mir, was ich möchte, sonst bin ich weg - das klingt nicht mal mehr nach einem Mindestmaß an Vertrauensverhältnis. Deswegen ist tatsächlich schwer vorstellbar, dass diese Kanzlerin mit diesem Bundesinnenminister weiter zusammenarbeiten könnte.

Und doch: Wenn es heute Abend eine Brücke geben sollte, wird niemand ausschließen, dass der Versuch doch noch gemacht wird.

Kann Horst Seehofer den Sturz von Angela Merkel provozieren?

So verrückt es klingt: Diese Chance ist durch sein allerletztes Manöver eher kleiner geworden. Tatsächlich gibt es in der CDU eine erhebliche Zahl an Funktionären und Mitgliedern, die Merkels Flüchtlingskurs in den vergangenen drei Jahren eher murrend als euphorisch mitgetragen haben. Und tatsächlich teilen sie die Überzeugung der CSU, dass es jetzt klare Botschaften braucht, um der Bevölkerung zu signalisieren, dass es klare Grenzen gibt, die man unbedingt einhalten möchte.

Aus diesem Grund hätte Seehofer der Kanzlerin am Sonntagabend politisch dramatisch wehtun können, wenn er seinen Rücktritt früh und klar formuliert hätte. Verbunden mit der Botschaft, er und Merkel hätten den Karren beide zusammen in den Dreck gefahren - und sollten deshalb jetzt auch den Weg für einen Neuanfang frei machen.

Dieses Verhalten wäre das genaue Gegenstück zu jenem Wahlabend 2005 gewesen, an dem der damalige Noch-Kanzler Gerhard Schröder Merkel lächerlich zu machen versuchte, dass ihre Position in der CDU trotz eines miserablen Wahlergebnisses mit einem Schlag stabilisiert war. Schröders Attacke auf ihre Vorsitzende konnte die CDU nicht dulden.

Nach dem nächtlichen Hin und Her und Seehofers neuerlicher Drohung ist die Kanzlerin in den eigenen Reihen nun bis auf Weiteres stabilisiert.

Gibt es noch eine Kompromissmöglichkeit?

Das scheint im Augenblick ausgeschlossen zu sein. Aber wer wirklich will, könnte das durchaus schaffen, auch wenn das angesichts der Tonlage und der Eskalationsstufe fast absurd wirkt.

Gleichwohl wäre es nach dem Brüsseler Gipfel möglich gewesen, gemeinsam zu erklären, dass man das Erreichte bald umsetzt und zunächst nur jene Flüchtlinge zurückweist, die in Ländern registriert wurden, die bislang nicht zu Gesprächen mit Berlin bereit sind.

Mögliche Begründung an die betroffenen Staaten: Der Druck ist so groß, jetzt etwas zu erreichen - aber wenn wir ins Gespräch kommen, beenden wir sofort die Zurückweisungen. Problem an diesem Weg: Deutschland würde, angetrieben von der CSU, genau den Kurs einschlagen, den die Bayern Merkel für das Jahr 2015 vorwerfen - einen Europa spaltenden Alleingang. Merkel lehnt diesen Schritt vehement ab; sie tat es auch, als Seehofer ihr am Samstagabend im Kanzleramt diese Variante vortrug.

Die zweite Variante wäre auch nicht ausgeschlossen gewesen: Merkel und Seehofer hätten gemeinsam betonen können, dass man die Brüsseler Einigung aufgreift und nach wenigen Wochen all jene Flüchtlinge zurückweist, die in jenen EU-Staaten registriert wurden, mit denen Berlin sich über Rückführungen geeinigt hat.

Dieser Weg würde heißen: Aus der neuen Vereinbarung einen klaren Akt machen. Das freilich ist der CSU viel zu wenig. Sie will nicht nur vollstrecken, was Merkel verhandelt hat. Sie will das Gegenteil erreichen - die eigene nationale Botschaft.

Schließlich gäbe es eine dritte Möglichkeit, und die könnte eigentlich für beide attraktiv und machbar sein. Schon auf dem Brüsseler Gipfel war beschlossen worden, die sogenannte Schleierfahndung auszubauen. Sie erlaubt es der Polizei, im grenznahen Gebiet auf Verdacht Kontrollen durchzuführen.

Was, wenn Merkel und Seehofer erklären würden, dass diese Kontrollen massiv ausgebaut und alle Aufgegriffenen sofort in sogenannte Ankerzentren für schnelle Verfahren gebracht würden? Seehofer hätte nicht die Zurückweisungen an der Grenzen, aber womöglich eine noch größere Möglichkeit, sehr schnell konkrete Fakten zu schaffen. Und Merkel könnte erklären, dass es keinen nationalen Alleingang an der Grenze gibt - auch wenn beide beim Ausbau der Schleierfahndung natürlich national handeln.

Unmöglich? Eigentlich nicht. Aber unwahrscheinlich mit den beiden Hauptprotagonisten.

Was ist der Kern in diesem Streit?

Wer es ganz genau wissen möchte, muss den Blick auf die Vorgänge am 13. September 2015 werfen, also auf eine Zeit, in der zeitweise Zehntausende Flüchtlinge binnen weniger Tage nach Deutschland kamen. Die Geschehnisse sind bis heute umstritten. Der damalige Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte nach langer Abwägung und Debatten mit dem Bundespolizeipräsidenten Dieter Romann (der für Zurückweisung an den Grenzen war, und Vertretern der Europa- und der Migrationsabteilung des Ministeriums (die darin einen Verstoß gegen Europarecht sahen) entschieden, Grenzkontrollen einzuführen, Zurückweisungen aber abzulehnen.

Gegner dieses Kurses argumentieren bis heute, bei dem Beschluss handle es sich um eine Weisung des Ministers, die man zurücknehmen könne. Befürworter der Entscheidung erklären dagegen, dass de Maizière sich lediglich der Auffassung seiner Europa-Rechtler angeschlossen habe. Es ist in der Tat schwer vorstellbar, dass sich ein Minister über die Köpfe der eigenen Juristen hinweg anders entscheidet. Deren Botschaft lautet: Der Innenminister habe nicht gegen Recht und Gesetz verstoßen, sondern sich im Gegenteil der gängigen Rechtsauffassung angeschlossen.

Beide Seiten verweisen dabei auf das Asylgesetz, Paragraf 18, Absatz vier. Im ersten Satz heißt es da, man könne an der Grenze abweisen, sofern nicht europarechtliche Regelungen dem entgegenstehen. Dies entspricht de Maizières Rechtsauffassung. Im zweiten Satz wird erklärt, dass man eine Zurückweisung von Flüchtlingen auch dann verhindern könne, wenn für die Bundesregierung übergeordnete internationale Ziele oder Verpflichtungen dagegen stehen.

Darauf bezieht sich bis heute die CSU, zuletzt betonte das Horst Seehofer am Sonntagabend in München. Die Christsozialen schließen daraus, dass de Maizière eine Weisung gegen eine Zurückweisung erteilt habe - und diese Weisung heute jederzeit zurückgenommen werden könnte. Was die CSU dabei nicht bedenkt oder absichtlich ignoriert: Europarecht hat Vorrang vor nationalen Gesetzen, was der erste Satz ja auch ausdrücklich besagt. Diese Regel verliert nichts von ihrer Bedeutung. Insbesondere nicht vor den Verwaltungsrichten, die über Beschwerden entscheiden.

Was, wenn Seehofer nach der abendlichen Kompromisssuche trotzdem zurücktritt?

Dann ist zunächst einmal Horst Seehofer seinen Job los. An der grundsätzlichen Auseinandersetzung ändert sich dadurch noch gar nichts. Auch ein potenzieller Nachfolger, der vermutlich Alexander Dobrindt oder Stephan Mayer heißen würde, könnte sich kaum über die harte Linie der CSU-Spitze hinwegsetzen.

Es sei denn, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder käme zu dem Schluss, er müsse angesichts der Lage vorsichtig einlenken. Wahrscheinlich ist das nicht, ausschließen sollte man zurzeit aber auch nichts. Was, wenn Söder sich in der größten Not der Union zum Retter der Gemeinschaft aufschwingt - und im Gegenzug von der Kanzlerin einen gewaltigen Ausbau der Schleierfahndung nebst schnell zu errichtender Ankerzentren in Bayern erhält?

Klingt unmöglich, ist es wohl auch. Aber Überraschungen sollte man nicht ausschließen.

Was passiert, wenn es zum Bruch zwischen CDU und CSU kommt?

Dann wäre die zerstörerische Kraft am größten, für die Union und für die Regierung. Sollte Seehofer zurücktreten, könnte Merkel aber versuchen, gekoppelt an einen umfassenden Plan für die künftige Asylpolitik, die Vertrauensfrage zu stellen. Damit könnte sie prüfen, ob sie Chancen hat, die CSU ohne Seehofer und mit einem großen Angebot (siehe Schleierfahndung und Ankerzentren) doch noch für sich zu gewinnen.

Schafft sie das nicht und verliert die CSU-Abgeordneten, dann könnte sie zwar als Kanzlerin einer Minderheitsregierung weitermachen. Aber erfolgversprechend ist das eher nicht, es klingt nach einer langgestreckten Lähmung mit bitterem Ende.

Aus diesem Grund wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass dann mancher in der CDU-Spitze über Neuwahlen und ein Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel nachdenkt.

Setzen sich dann allerdings die CDU-Hardliner durch, dürfte es tatsächlich noch vor der bayerischen Landtagswahl zur Gründung einer Landes-CDU kommen. Und umgekehrt zu einer Ausdehnung der CSU auf ganz Deutschland. Stärken würde das die konservative Seite aber nicht. Die Folge wäre im Gegenteil wohl eher die Zersplitterung des konservativen Lagers, vor der alle warnen.

Wäre es denkbar, dass die Grünen in eine Merkel-geführte Koalition eintreten? Oder die FDP?

Das ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber nicht wahrscheinlich. Auch wenn die Grünen-Führung viel darüber nachdenkt, was es eigentlich bedeutet, dass in diesen Zeiten Deutschlands Politiker so unfähig sind, zusammenzufinden.

Trotzdem sind die Differenzen gerade in der Flüchtlingspolitik durch die jüngsten Beschlüsse eher größer geworden. Viele Bestandteile des sogenannten Masterplans lehnen die Grünen strikt ab, während Merkel die meisten Punkte ja für richtig hält. Sind da Brücken möglich? Sehr unwahrscheinlich.

Nicht viel anders sieht es aus bei der Frage, ob die FDP eintreten könnte. Hier sind die Brücken zur CDU nicht sonderlich groß und zur SPD aktuell winzig.

Wie reagiert eigentlich die SPD auf all das?

Sie hat einen eigenen Plan entworfen. Fünf Punkte sollen ihr helfen, endlich wieder wahrgenommen zu werden. Dabei stützt die Partei zum großen Teil die proeuropäische Linie der Kanzlerin und signalisiert leise, dass auch sie für beschleunigte Verfahren sein könnte - jedenfalls bei all denen, die offensichtlich kaum eine Bleibeperspektive haben.

Ob die SPD bei einem Rückzug der CSU aus der Regierung mit der Kanzlerin in eine Minderheitsregierung gehen würde, ist allerdings offen. Natürlich sind die Umfragen für die Sozialdemokraten schlecht, Neuwahlen wären entsprechend gefährlich. Das aber bedeutet nicht, dass ein lähmendes Bündnis für die SPD tatsächlich die bessere Alternative wäre. Im Schatten der großen Krise ringt auch die SPD um eine Geschlossenheit, die sie - egal wie alles ausgeht - nicht in die nächste Bredouille bringt. Auch das ist keine einfache Aufgabe.

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