Italien:Wo jeden Tag Europas Migrationspolitik scheitert

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"Ich kann es noch immer nicht fassen, dass es hier wieder eine Grenze gibt, mit allem drum und dran": Migranten kampieren an einer Brücke in Ventimiglia. (Foto: AFP)

Die Grenze zwischen Italien und Frankreich sollte es durch das Schengener Abkommen eigentlich nicht mehr geben. Doch in Ventimiglia lässt sich täglich erleben, wie sich Europa gegen Flüchtlinge abschottet.

Reportage von Oliver Meiler, Ventimiglia

Am Bahnhof von Ventimiglia, sieben Uhr in der Früh. Auf dem Parkplatz sägen sie eine Palme klein, jedes abgesägte Stück kracht mit dumpfem Knall auf den Boden. Acht Männer mit Rucksäcken stehen vor der Leuchttafel mit den Abfahrtszeiten. Sie studieren sie still, stehen da und starren. Es ist mal wieder kein guter Tag. Die Bauarbeiten am Bahnhof verhindern die Reise. Alle Fahrten ins französische Menton, wo sie hinwollen, sind ausgesetzt. In der Gegenrichtung aber fahren die Züge. "Wie ist denn das möglich?", sagt Abdul, 27, aus dem Sudan, mit Baseballmütze und Kopfhörern um den Nacken. Ein neuer Trick der Franzosen?

Es ist Abduls siebter Versuch, mit dem Zug rüberzumachen ins vermeintlich bessere Frankreich. Das ist die sicherste Option, weniger gefährlich als der Weg zu Fuß durch die Tunnels oder über die Berge. Sehr aussichtsreich ist sie allerdings nicht. Abdul lacht müde und sagt, wir werden ja sehen. Die französischen Polizisten steigen in die Züge, meist zu sechst, picken sich alle Passagiere mit schwarzer Hautfarbe heraus, checken, ob vielleicht nicht auch ein Franzose dabei ist, und schieben dann alle anderen zurück. Nach Italien, nach Ventimiglia. Aber Abdul und seine Freunde werden es wieder versuchen, immer wieder, hin und her.

Die Italiener nennen es "Pingpong", es ist zum Ritual geworden. Die Bällchen in diesem Spiel? Das sind Menschen aus dem Sudan, aus Eritrea, Tschad, Mali, die aus ihrer Heimat geflohen sind, über Libyen und das Mittelmeer nach Sizilien und dann weiter in den Norden. An der Grenze zwischen Ventimiglia und Menton, die eigentlich gar keine mehr sein sollte, begeht Europa das Scheitern seiner Immigrationspolitik. Jeden Tag, seit Jahren schon.

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Die Franzosen weisen täglich Dutzende Menschen ab

Seit Paris nach den Terroranschlägen im Herbst 2015 das Schengen-Abkommen suspendiert hat, ist hier zu. Die Franzosen weisen täglich Dutzende Menschen ab, ohne lange zu fragen, wo sie herkommen, was sie wollen, und ohne zu prüfen, ob sie vielleicht doch ein Recht haben, einen Asylantrag zu stellen. Etwa 11 000 sollen es im laufenden Jahr gewesen sein. 2017 waren es mehr als 50 000. Die Grenzpolizisten drücken ihnen einen Zettel in die Hand, oben steht "Refus d' entrée", Eintrittsverweigerung, und schicken sie zurück.

Sie begleiten sie zum Zug in Menton, der ohne Stopp bis Ventimiglia fährt. Oder sie schieben sie einfach ab auf die andere Seite des Schlagbaums. Den gibt es nämlich wieder, er hat jetzt die Form eines blauen Sonnenschirms, drei Gendarmen stehen darunter, einer trägt eine Maschinenpistole an der Schulter. Bei jedem Auto, das aus Ventimiglia kommt, tippen sie auf den Kofferraum, lassen ihn öffnen. Es könnte ja ein Bällchen drinliegen. Transportiert von einem "Passeur", wie sie in Italien genannt werden, einem Menschenschmuggler.

An dieser landschaftlich spektakulären Grenze war der Schmuggel immer schon ein Geschäft. Unten das Meer der Riviera, blau und türkis. Dann geht es gleich sehr steil hinauf zum "Pass des Todes", einem rauen Ausläufer der ligurischen Alpen, der spitzfelsig in den Himmel ragt und schon so vielen Wandernden das Leben nahm. Alles sehr eng hier. Steht man beim oberen Grenzübergang, am Fuß des Passes, überblickt man die Bahngleise weiter unten. Zwei Beamte sitzen dort unter einer Pinie, das Zirpen der Zikaden zerreißt die Hitze. Dann, noch einmal hundert Meter weiter, kommt der Zoll, auch mit Sonnenschutz und einer Viererbesetzung. Das ganze Tagesaufgebot für eine Totalblockade. "In der Nacht ist das Aufgebot noch größer", sagt Daniela Zitarosa, 29 Jahre alt und Juristin der Menschenrechtsorganisation Intersos. Dann patrouillieren da auch Fremdenlegionäre.

Trotz Blockade, Schikanen und Todesgefahren - die meisten kommen irgendwie durch

Seit drei Jahren arbeitet die Italienerin nun schon in Ventimiglia, man sieht sie oft in den Medien. "Ich kann es noch immer nicht fassen, dass es hier wieder eine Grenze gibt, mit allem drum und dran", sagt sie. Zitarosa setzt sich für die Rechte der Migranten ein, klärt sie auf über ihre Chancen, Asyl zu bekommen, sie setzt für sie Beschwerden auf, wenn die Franzosen mal wieder das Recht gebrochen und Menschen pauschal abgewiesen haben. Sie kooperiert auch mit französischen Kollegen. "Manchmal fälschen die französischen Polizisten auch Dokumente", sagt sie.

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Die Italiener beschweren sich seit Jahren über die systematischen Zurückweisungen, aber die Franzosen machen weiter. Sie berufen sich auf ein bilaterales Abkommen, unterzeichnet 1997. Es sieht vor, dass französische und italienische Polizisten in gewissen Fällen und in einem genau definierten Radius auch jenseits der Grenze operieren können. Es heißt darin, dass diese Operationen immer gemeinsam durchgeführt werden müssten. Die Franzosen tauchen zuweilen auch am Bahnhof von Ventimiglia auf und hindern Migranten daran, die Züge überhaupt zu besteigen. "Italienische Beamte? Keine, weit und breit", sagt Zitarosa. Es komme ihr so vor, als ducke sich Italien.

Als vor einigen Wochen die neue italienische Regierung von Lega und Cinque Stelle der Aquarius, dem Schiff einer Hilfsorganisation, das Einlaufen in einen Hafen untersagte und damit international Schlagzeilen auslöste, gab sich Paris empört. Emmanuel Macron sprach von "unmenschlichen" und "zynischen" Maßnahmen der Italiener, worauf die neuen Mächtigen in Rom den französischen Präsidenten einen "Heuchler" nannten. Was Frankreich bei Ventimiglia aufführe, sei eine Schande, sagten sie. Darauf befand Macron, die Populisten seien "Leprakranke". So geht das hin und her. Auch wie beim Pingpong.

Besonders verstörend ist das Phänomen der zurückgewiesenen Minderjährigen ohne Begleitung. 2016 zählte das italienische Innenministerium unter den Zuwanderern, die Italien erreichten, 25 846 Kinder ohne Eltern. 2017 waren es 15 779. Manche sind sehr klein: Zehnjährige, Zwölfjährige, sogar von einem achtjährigen Eritreer berichteten italienische Medien. Der Kleine fiel auf, weil er versuchte, wie ein Erwachsener zu gehen, breitbeinig, die Hände an den Hüften.

Es gäbe genügend Gesetze und internationale Konventionen, die diese Kinder schützen, theoretisch wenigstens. An dieser Grenze aber gelten sie nicht. Auch Dublin ist hier nicht viel wert. Nach dem Dubliner Abkommen dürfen Kinder in mehreren Ländern Asylanträge stellen. Vorgesehen ist auch, dass sie zu ihren Verwandten dürfen, wenn sie welche in der EU haben. Und das haben viele. Trotzdem geraten sie ins Pingpong. Kürzlich gab es den Fall von Halim, einem eritreischen Kind, zwölf Jahre alt. "Er sah eher wie zehn aus", sagt Daniela Zitarosa. Er kam im Januar nach Ventimiglia, wurde in das Aufnahmezentrum an der Via Dante gebracht, das für Erwachsene gemacht ist. Es gibt da zehn Plätze für Minderjährige, die lokale Sektion des Roten Kreuzes kümmert sich um die Kleinen. Für das "Campo Roja", ein staatliches Zentrum am Stadtrand, war Halim zu klein. Wobei man sich fragen kann, wofür ein Mensch zu klein ist, nachdem er die Wüste und das Mittelmeer durchquert hat.

Halim wollte nach Deutschland weiterreisen, dort habe er Brüder, sagte er. Kaum war er in Ventimiglia, versuchte er es ein erstes Mal mit dem Zug nach Menton, die Franzosen schickten ihn zurück. Auf dem "Refus d' entrée" stand das wahre Alter Halims. Die Grenzpolizei wusste also, dass er minderjährig und unbedingt schutzbedürftig war. Zitarosa und ihre Kollegen reichten Berufung ein beim Verwaltungsgericht in Nizza. Sie erklärte dem Jungen, dass das Tribunal 48 Stunden Zeit habe, um ein Urteil zu fällen. Es war an einem Freitag. Halim sagte: "O.k., Samstag und Sonntag passiert nichts, es wird sicher Mittwoch". Er sei sehr schnell im Kopf.

Doch dann änderten die französischen Grenzbehörden ihre Taktik

Warten mochte er nicht, offenbar misstraute er der Prozedur. Je länger ein Verfahren dauere, desto ungeduldiger würden sie, sagt Zitarosa. Als das Urteil eintraf, war er schon weg. Wie, das weiß niemand.

Sein Fall wurde zum Präzedenzfall. Das Gericht gab Halim und seinen Verteidigern recht. Und aufgrund dieses Urteils, Nummer 1800195, ließen sich Dutzende ähnlicher Fälle lösen. Doch dann änderten die französischen Grenzbehörden ihre Taktik. "Sie sind sehr kreativ und schnell in diesen Sachen", sagt Zitarosa. Nun kommt es vor, dass die Polizei in Menton das Alter ändert und auf die Eintrittsverweigerung ein falsches Geburtsdatum notiert. "Ganz oft schreiben sie einfach 1. Januar 2000."

Ein Minderjähriger fotografierte sein "Refus d' entrée" mit seinem Handy und dazu den Ausweis des Roten Kreuzes, den er den Polizisten gezeigt hatte, darauf stand sein richtiges Geburtsdatum. Die Franzosen machten aus ihm kurzerhand einen Volljährigen, damit sie ihn leichter zurückweisen konnten. Manchmal, erzählt Zitarosa, wird den Kindern die SimKarte ihres Handys weggenommen, oder man schneidet ihnen Löcher in die Schuhsohlen, damit sie es nicht noch einmal versuchen. "In den meisten Fällen verweigert man ihnen auch das Recht auf einen Übersetzer oder einen Betreuer." Die Franzosen reden einfach auf Französisch auf sie ein und schicken sie dann zurück.

Aber irgendwie schaffen es dann doch viele. Trotz Blockade, Schikanen und Todesgefahren. Käme niemand durch, wäre Ventimiglia, ein Städtchen mit 27 000 Einwohnern, längst überlaufen. Doch es sind immer etwa gleich viele Migranten da, obschon aus dem Süden jeden Tag neue dazukommen. Sie fahren nicht zum Brenner, auch nicht nach Chiasso. Alle sagen, am Brenner und in Chiasso sei es noch viel schwieriger durchzukommen.

© SZ vom 07.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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