Internationale Beziehungen:China entfesselt, Europa gelähmt

Die neue Großmacht hat sich wirtschaftlich wie politisch zur Herausforderung für Deutschland und die EU entwickelt. Es ist ein schicksalsträchtiger Balanceakt: Wie Chinas Tempo mitgehen, ohne die eigenen Ideale aufzugeben?

Kommentar von Stefan Braun, Berlin

Angela Merkel ist seit bald 13 Jahren Kanzlerin in Deutschland, und sie reist fast jedes Jahr einmal nach China. Sie hat Gemüsemärkte und alte Schreine besucht, hat mit Bürgermeistern geredet und mit Parteikadern gestritten. Sie hat deutsche Fabriken gesehen und chinesische Firmen begutachtet. Sie hat an Kochkursen teilgenommen und sich Autos zeigen lassen, die ohne Fahrer fahren. Kein Land hat Merkels Neugier so sehr geweckt wie China.

Nun mag das an ihrer Überzeugung liegen, dass Neugier Voraussetzung ist für gutes Regieren. Aber es gibt einen zweiten, wichtigeren Grund für Merkels Reiselust gen Osten: In China bündelt sich so gut wie alles, was über die Zukunft Deutschlands entscheidet.

China will wirtschaftliche Weltmacht werden und nutzt dafür seine rasante Digitalisierung. Peking lebt einen Autoritarismus vor, der so aggressiv und konsequent auftritt, dass er zum Gegenangebot für jene geworden ist, die an der Effizienz westlicher Demokratien zweifeln. China hat sich wirtschaftlich wie politisch zur großen Herausforderung für Deutschland und Europa entwickelt. Der alte Kontinent durfte sich jahrzehntelang als Hort von Demokratie, Weltoffenheit und wirtschaftlichem Erfolg rühmen. China ist drauf und dran, ein sehr mächtiges Gegenmodell zu etablieren.

Im Verhältnis zu Peking geht es deshalb nicht mehr um ein paar gute oder weniger gute Gespräche, wie sie am Montag bei den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen geführt wurden. Es geht nicht mehr um diesen oder jenen Milliardenauftrag. Es geht um die Frage, ob Europa auf Augenhöhe bleibt oder zum Bittsteller wird.

Das klingt sorgenvoll und ist auch so gemeint. Seit gut einem Jahrzehnt könnten die Entwicklungen kaum gegenläufiger sein. China wirkt wie entfesselt, Europa immer mehr gelähmt. Chinas größte Sorge ist, dass es seiner rasant wachsenden Mittelschicht nicht mehr genug Neues bieten könnte; Europa kämpft gegen das Problem an, dass in vielen EU-Staaten ein Prekariat entsteht, das abgekoppelt ist von allen Entwicklungen. Wer vor allem einen Blick für Modernität und Dynamik hat, für den ist China die Zukunft, verbunden mit dem Gefühl, dass da ein Formel-1-Bolide an einem schönen, aber alten Fiat 500 vorbeirauscht.

Die europäische Politik muss schnell zur Vernunft kommen

Groß ist deshalb die Verunsicherung, wenn man ein paar Tage Chinas Geschwindigkeit geatmet hat und dann in die deutschen Debatten um Sozialstaat, Rentenhöhe, Mindestlohn zurückkehrt. Das heißt nicht, dass diese Debatten unwichtig wären. Und es heißt mitnichten, dass man das zähe Ringen um Lösungen durch einen Autoritarismus à la China ersetzen sollte. Aber der Kontrast zeigt, in welch unterschiedlichen Geschwindigkeiten Europa und China unterwegs sind. Und er legt offen, wie verantwortungslos alle jene handeln, die in Europa aus nationalen Motiven Spaltungen provozieren und Kompromisse erschweren. Ganz so als hätten sie immer noch nicht gemerkt, was auf der Welt los ist.

Für Berlin und Brüssel ist die Beziehung zu Peking ein schicksalsträchtiger Balanceakt. So viel Kooperation wie möglich, so viel Abstand wie nötig - das klingt banal, ist aber als Kompass im Umgang mit China entscheidend. Die Verteidigung der Menschenrechte ist dabei keine Petitesse. Sie machen Europa aus. Sie aufzugeben hieße, sich selbst aufzugeben.

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