Urteilsverkündung:Der NSU-Prozess darf München nicht kalt lassen

Nach mehr als fünf Jahren geht der größte Strafprozess zu Ende, den die Stadt je erlebt hat. Den Münchnern fiel es leicht, all das Verstörende beiseitezudrücken.

Kommentar von Kassian Stroh

Ein letztes Mal Ausnahmezustand an der Nymphenburger Straße. Ein letztes Mal Absperrungen, wegen der Demonstrationen vor dem Strafjustizzentrum, wegen der Gefangenentransporte quer durch die Stadt. Ein letztes Mal Live-Sendungen aus München wegen des Prozesses um die Terrortaten einer Zelle namens Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). An diesem Mittwoch geht nach mehr als fünf Jahren der größte Strafprozess zu Ende, den München je erlebt hat. Aber hat sich diese Stadt ihm wirklich gestellt?

Er fand statt wie in einer Blase, abgekapselt im Strafjustizzentrum. Zunehmend abgestumpft - schon allein wegen der monströsen Verfahrensdauer - hat ihn die Öffentlichkeit allenfalls noch am Rande zur Kenntnis genommen, überall in Deutschland, nicht nur in München. Ein Prozess, der eine bundesweite Anschlagsserie behandelte, die ihren Ausgang in Zwickau nahm, weit weg von München, wo das Verfahren aus prozessualen Gründen landete. Es war also auch für die Münchner leicht, all das Verstörende, was da vor Gericht zur Sprache kam, beiseite zu drücken. Aber was mit juristischen Mitteln vor dem Oberlandesgericht aufzuarbeiten versucht worden ist, darf diese Stadt nicht kalt lassen.

Aus zwei Gründen: Zum einen weil der NSU zwei seiner zehn Morde hier verübte, weil er zwei Bürger Münchens erschoss, Habil Kılıç und Theodoros Boulgarides, weil er zwei Münchner Familien brutal auseinanderriss, die jahrelang die Frage nach dem Warum quälte, die sich falscher Verdächtigungen erwehren mussten. Es hat eine Weile gedauert, bis die Stadt einen Weg gefunden hat, wie sie der beiden Opfer gedenkt. An den beiden Tatorten in Ramersdorf und auf der Schwanthalerhöhe hängt seit Ende 2013 nun je eine Gedenktafel, immerhin. Und seit 2015 vergibt die Stadt München zusammen mit Nürnberg den "Mosaik Jugendpreis" für Projekte, die sich gegen alltäglichen Rassismus einsetzen, für interkulturellen Dialog und einen respektvollen Umgang miteinander.

Zum anderen steht nach wie vor die Frage im Raum, wie viel Unterstützung die Täter auch hier in München fanden - und noch finden. Angehörige der hiesigen Neonazi-Szene verfolgten den Prozess von der Besuchertribüne aus, sie machten keinen Hehl aus ihrer Sympathie für die Angeklagten, von denen einer auch bei einschlägig Bekannten aus der Szene nächtigte. Die Frage, wie viel Nährboden die Gesellschaft für rechtsextremes Gedankengut bietet und in der Folge davon vielleicht auch für rechte Gewalt, muss überall in Deutschland gestellt werden. In München aber ganz besonders.

Das rührt nicht nur daher, dass die Nationalsozialisten diese Stadt, in der ihr Aufstieg begann, zur "Hauptstadt der Bewegung" erkoren. Dieses Erbe ist schrecklich, es kann auch nicht ausgeschlagen werden, sondern ist umso mehr Verpflichtung, jedem Versuch einer Wiederbelebung entgegenzutreten. München war zudem Schauplatz anderer ideologisch motivierter Verbrechen: 1970 wurde in Riem ein israelisches Flugzeug angegriffen, ein Mann kam ums Leben. Kurz darauf der bis heute ungeklärte Brandanschlag auf das jüdische Altenheim an der Reichenbachstraße, bei dem sieben Menschen starben.

1972 der Überfall palästinensischer Terroristen auf die israelische Olympiamannschaft, an dessen Ende zwölf Unschuldige ihr Leben verloren hatten. 1980 das Oktoberfest-Attentat, mit 13 Toten und mehr als 200 Verletzten der schlimmste Terroranschlag der Nachkriegsgeschichte in Deutschland; die Rohrbombe hatte ein Rechtsextremist gelegt. 2003 der in letzter Minute vereitelte Bombenanschlag durch Neonazis auf die Grundsteinlegung für das Jüdische Zentrum am Jakobsplatz. Und vor fast zwei Jahren schließlich der neunfache Mord durch David S. am Olympia-Einkaufszentrum, allem Anschein nach begangen aus rassistischen Motiven heraus. Auch all das ist Teil der Münchner Stadtgeschichte, auch all das ist Verpflichtung, nicht nur in Worten ein "Nie wieder" zu beschwören.

In München gibt es ein engmaschiges Netzwerk gegen Rassismus, gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Es hat in München immer wieder große Demonstrationen organisiert, hier gingen schon Zigtausende gegen die Islamfeinde von Pegida auf die Straße, als Pegida noch gar nicht da war. Zu Recht ist die Stadtgesellschaft stolz darauf, sie darf sich damit aber nicht begnügen und selbstgefällig zurücklehnen. Sie muss immer wieder prüfen, ob sie genug tut gegen Rechtsextremismus, ob sie Jugendliche gegen dieses Gedankengut immun macht. Sie muss sich in allen Bereichen, in der Kultur, an den Universitäten, in den Firmen, in der Politik zumal, für eine offene Gesellschaft stark machen. Gerade jetzt, da fremdenfeindliche, nationalistische Töne zunehmend gesellschaftsfähig zu werden scheinen. Auch in diesem ach so liberalen, weltoffenen München.

Dass der NSU-Prozess nun zu Ende geht, heißt allenfalls, dass die Auseinandersetzung mit diesen Verbrechen juristisch beendet ist, nicht aber politisch und gesellschaftlich. Zwei Morde im Namen der schlimmsten Ideologie, die aus München heraus über die Menschheit kam - dem muss sich München auch mit mehr als nur zwei Gedenktafeln stellen. In ein paar Wochen, am 29. August, wäre wieder eine Gelegenheit dazu. Dann jährt sich der Mord an Habil Kılıç zum 17. Mal. Keine runde Jahreszahl - aber umso stärker wäre nach dem NSU-Prozess das Zeichen, wenn sich die Stadt an diesem Tag zu einem stillen Gedenken versammelte. Als Zeichen dafür, dass München die Opfer nicht vergessen wird.

Aktionen und Demonstrationen

Vier lebensgroße "Werwölfe" aus Eisen und Bronze werden am Mittwoch an der Ecke Nymphenburger Straße/Sandstraße stehen. Der Solinger Künstler Rainer Opolka will mit dieser Installation ein Zeichen gegen Rechtsextremismus und Rassismus setzen. Opolka selbst will von sechs Uhr morgens an vor dem Strafjustizzentrum sein, um dort mit den Menschen zu diskutieren.

Potenzielle Gesprächspartner wird Opolka in großer Zahl haben. Da sind zunächst die Menschen, die sich schon seit der Nacht anstellen, um einen der raren Plätze im Saal A101 des Gerichtsgebäudes zu ergattern, in dem von 9.30 Uhr an das Urteil im Prozess gegen den "Nationalsozialistischen Untergrund" gesprochen wird. Nicht ausgeschlossen ist, dass wie bei der Prozesseröffnung wieder etliche Neonazis versuchen werden, in den Saal zu kommen. Eine eigene Kundgebung haben Rechtsextremisten bis zum Dienstagnachmittag nicht angemeldet.

Das Bündnis gegen Naziterror und Rassismus hat zu einer ganztägigen Kundgebung vor dem Oberlandesgericht aufgerufen und fordert: "Kein Schlussstrich!" Beginn ist um acht Uhr mit der Verlesung der Namen der Mordopfer und einer Schweigeminute. Gegen neun Uhr wird unter anderen Arif S. sprechen, eines der Opfer des Nagelbombenanschlags an der Kölner Keupstraße. Der Einzelhändler hat während des Prozesses berichtet, er habe der Polizei schon früh gesagt, dass die Täter Neonazis gewesen seien. Doch der Polizist habe das nicht hören wollen und einen Finger auf seine Lippen gelegt. Neben zahlreichen weiteren Rednern wird auch Ibrahim Arslan sprechen, ein Überlebender des von Neonazis im Jahr 1992 verübten Brandanschlags von Mölln.

Weitere Aktionen - unter anderem ein Auftritt der Hip-Hop-Gruppe Antilopen Gang - werden im Lauf des Tages folgen, ehe sich gegen 18 Uhr ein Demonstrationszug in Bewegung setzen wird, zu dem womöglich mehrere tausend Teilnehmer aus ganz Deutschland erwartet werden. Die Teilnehmer ziehen am Bahnhof vorbei durch die Sonnen- und Brienner Straße zum Odeonsplatz. Dort soll um 19 Uhr vor dem Innenministerium die Schlusskundgebung stattfinden. Am Mittwoch werden viele freie Radios in Deutschland und Österreich mit einer senderübergreifenden Redaktion von den Aktionen zur Urteilsverkündung berichten, darunter auch das Münchner Radio Lora.

Das Kreisverwaltungsreferat rät Autofahrern, wegen Sperrungen und großräumiger Halteverbote den Bereich ums Strafjustizzentrum zu meiden. Martin Bernstein

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