Asyl-Kontroverse:Was bei der Abschiebung des Gefährders Sami A. geschah

Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen erklärt die Aktion für "grob rechtswidrig". Was wusste Innenminister Seehofer? Chronologie eines bürokratischen Versteckspiels.

Von Constanze von Bullion und Ronen Steinke, Berlin, und Christian Wernicke, Düsseldorf

Er wird beschuldigt, ein islamistischer Gefährder zu sein: Sami A., Tunesier, 42 Jahre alt, lebte über Jahre in Bochum. Weil Gerichte urteilten, ihm drohe bei Abschiebung Folter, konnte er lange nicht abgeschoben werden. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) wollte "persönlich" für seine Rückführung sorgen und die "Spirale aus Gerichtsentscheidungen durchbrechen". Auch die Landesregierung von NRW und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) wollten A., der kurzzeitig Leibwächter von Osama bin Laden gewesen sein soll, loswerden.

Am 13. Juli wurde A. abgeschoben. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen erklärte die Aktion für "grob rechtswidrig", es habe ein Abschiebeverbot bestanden. Die Justiz sei von den Behörden getäuscht worden. Die Verantwortlichen in Politik und Behörden bestreiten das. Chronik eines bürokratischen Versteckspiels.

Montag, 18. Juni, Potsdam: Laut Auskunft der Bundespolizei geht an diesem Tag in ihrem Präsidium ein Ersuchen des Landes NRW ein. Ein Rückführungsflug mit Sicherheitsbegleitung von Düsseldorf nach Enfidha soll vorbereitet werden. In einem Linienflug am Donnerstag, 12. Juli, werden für Sami A. Plätze gebucht.

Montag, 25. Juni, Büren: Sami A. wird in Abschiebegewahrsam gebracht.

Mittwoch, 27. Juni: Die Anwältin von Sami A. teilt dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen mit, die Abschiebung ihres Mandanten sei für den 29. August geplant. Sie stellt einen Antrag auf Abschiebeschutz. Das Gericht bittet das Bamf darum, "unverzüglich mitzuteilen", falls eine frühere Abschiebung geplant sein sollte. Nach Darstellung des Gerichts wiederholen die Richter diese Bitte in den kommenden Wochen mehrfach.

Freitag, 29. Juni, Potsdam: Die Bundespolizei hat nach eigener Darstellung vom Land NRW erfahren, dass "Widerstandshandlungen an Bord des Flugzeuges durch den Rückzuführenden nicht ausgeschlossen werden" können. Die Plätze im Linienflug am 12. Juli werden storniert.

Freitag, 6. Juli, Düsseldorf: Das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration Nordrhein-Westfalen beantragt über die "Zentrale Stelle für Flugabschiebungen" in Bielefeld, bei der Bundespolizei einen Charterflug zur Abschiebung des Sami A. zu organisieren. Die Bundespolizei erwidert: Flug am 13. Juli möglich. So zumindest stellt das Ministerium es dar.

Mittwoch, 11. Juli, Gelsenkirchen: Die 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen, die für aufenthaltsrechtliche Maßnahmen zuständig ist, erklärt die Abschiebungsandrohung gegen Sami A. für rechtmäßig. Der Antragsteller sei ausreisepflichtig (Az 8 L 1240/18). Die 7a. Kammer des Gerichts hat ein paralleles Verfahren zu Sami A. zu entscheiden. Sie prüft auf Antrag der Anwältin von Sami A. ein Abschiebeverbot wegen Foltergefahr in Tunesien (Az 7a L 1200/18.A). Die Kammer ruft beim Bamf in Nürnberg an. In der Akte der Bochumer Ausländerbehörde hat ein Richter den Hinweis entdeckt, für den Abend des 12. Juli sei ein Abschiebeflug geplant.

Der Gerichtspräsident stellt die Situation später folgendermaßen dar: Die Bamf-Mitarbeiterin erklärt dem Gericht, ihr liege die "Ausländerpersonalakte" von Sami A. nicht vor. Das Gericht verlangt daraufhin eine Zusage vom Bamf, den Tunesier nicht vor einer Gerichtsentscheidung außer Landes zu schaffen. Anderenfalls behalte die Kammer sich einen "Hängebeschluss" vor. Damit kann verhindert werden, dass Sami A. abgeschoben wird, bevor die Richter eine Entscheidung getroffen haben.

Donnerstag, 12. Juli, 9 Uhr, Gelsenkirchen: Nach Darstellung des Gerichts erwidert das Bamf den Antrag aus Gelsenkirchen und teilt dabei um kurz nach 9 Uhr mit, aus dem zuständigen Referat des NRW-Flüchtlingsministeriums habe man erfahren, die Flugbuchung für den Abend desselben Tages sei "storniert" worden. Gerichtssprecher und Richter Wolfgang Thewes wird später erklären, es sei dabei "mit keinem Wort" erwähnt worden, dass es eine Flugbuchung für den Folgetag, 13. Juli, gab. Thewes weiter: "Es ist normales Gebaren, dass man uns einen solchen Termin mitteilt."

Hat das Bamf dem Gericht diese wichtige Auskunft vorenthalten? Wurde die Flüchtlingsbehörde nicht informiert? Oder hat es ihr neuer Präsident Hans-Eckhard Sommer womöglich vorgezogen, nicht informiert zu werden, um sich später auf Unkenntnis berufen zu können? Das Bamf beantwortet diese Fragen bislang nicht. Man bitte um Verständnis, aber das Bundesamt äußere sich nicht zu laufenden Gerichtsverfahren. "Mitteilen kann ich Ihnen aber, dass den Fachbereichen und der Leitung keine Kenntnisse von der geplanten Abschiebung am 13. Juli vorlagen."

Und das lässt auch das Haus von Joachim Stamp (FDP) durchblicken. "Die Flugbuchung für den 13. Juli", so erklärt das NRW-Ministerium der Süddeutschen Zeitung im Nachhinein, sei von der landeseigenen Zentralstelle für Flugabschiebungen "in Zusammenarbeit mit der Bundespolizei erfolgt". Und weiter: "Es bestand keine Pflicht, das Bamf zu informieren." Ob das Bamf von der Bundespolizei ins Licht gesetzt wurde, bleibt im Dunkeln. Aber aus dem NRW-Ministerium scheint die wichtige Information zurückgehalten worden zu sein - weshalb auch das Gelsenkirchener Gericht ahnungslos blieb.

Donnerstag, 12. Juli, später Nachmittag, Gelsenkirchen: Die Richter der Kammer 7a beim Verwaltungsgericht formulieren ihr Verbot einer Abschiebung von Sami A. samt Begründung auf 22 Seiten. Wichtigster Punkt: Da eine "diplomatisch verbindliche Zusicherung der tunesischen Regierung" fehle, dass A. in seiner Heimat keine Folter drohe, dürfe er nicht abgeschoben werden. Um 19.20 Uhr hinterlegen die Richter ihre Entscheidung in der inzwischen nicht mehr besetzten Geschäftsstelle des Gerichts - zur Verkündung per Computerfax am Morgen des Freitags.

Donnerstag, 12. Juli, 17.37 Uhr: Seda Başay-Yıldız, die Anwältin von Sami A., reicht beim Verwaltungsgericht per Fax vorsorglich einen Antrag auf sofortigen Abschiebeschutz für ihren Mandanten ein. Mit diesem neuen Verfahren (Az 8L 1304/18) will sie verhindern, dass Sami A. noch vor einer Gerichtsentscheidung ausgeflogen wird. Nur, die Anwältin verzichtet offenbar darauf, die Richter auch telefonisch zu informieren. Das Fax bleibt mehr als zwölf Stunden lang unentdeckt, die Geschäftsstelle des Gerichts ist bereits geschlossen.

Freitag, der 13.

Freitag, 13. Juli, gegen 3 Uhr, Büren: Sami A. wird im Abschiebegewahrsam Büren geweckt, gegen 3.15 Uhr besteigt er einen VW-Transporter, begleitet von einer Eskorte der NRW-Landespolizei. Unklar bleibt, warum der Tunesier nicht seine Anwältin alarmiert. Er hatte ihre Nummer. Verweigerten die Polizisten ihm einen Anruf? Auf Anfrage der SZ heißt es dazu nun aus dem Haus von NRW-Flüchtlingsminister Stamp: "Das Ministerium geht diesem Sachverhalt nach, um ihn aufzuklären."

Freitag, 13. Juli, 5.05 Uhr, Düsseldorf: Beamte der Bundespolizei übernehmen nach Auskunft des Präsidiums Sami A. am Flughafen von Polizisten des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Bild-Zeitung ist auch schon da und fotografiert. Um 6.34 Uhr werden die Türen des Flugzeugs geschlossen, um 6.54 Uhr hebt die Maschine ab.

Freitag, 13. Juli, 8.10 Uhr, Verwaltungsgericht Gelsenkirchen: Der richterliche Beschluss, der die Abschiebung für rechtswidrig erklärt, wird dem Bamf übermittelt. Fünf Minuten später geht das selbe Fax auch an die Ausländerbehörde Bochum. Gerichtssprecher Thewes veröffentlicht kurz vor 8 Uhr zudem auf der Website des Gerichts eine Mitteilung über das am Vortag beschlossene Abschiebeverbot der Kammer 7a. Zehn Minuten später ruft ihn eine Journalistin an, sie verweist auf Tweets von Bild, wonach Sami A. bereits im Flugzeug sitze. "Ich bin aus allen Wolken gefallen," sagt Thewes heute.

Freitag, 13. Juli, 9.08 deutscher Zeit: Am Flughafen Enfidha in Tunesien landet die Challenger mit Sami A., um 9.14 Uhr übergeben die begleitenden Bundespolizisten ihn tunesischen Behörden.

Freitag, 13. Juli, 9.25 Uhr, Verwaltungsgericht Gelsenkirchen: Die Richterin ruft bei der Ausländerbehörde in Bochum an: Sami A. müsse, falls er sich noch im Transitbereich des Flughafens befinde, zurück nach Deutschland gebracht werden. Um 9.34 Uhr meldet sich Gelsenkirchen erneut per Telefon in Bochum: Das Gericht habe per "Hängebeschluss" Sami A. Abschiebeschutz gewährt. Zwei Minuten später hebt die Chartermaschine zum Rückflug nach Deutschland ab. Sami A. ist nicht an Bord. Von dem Entscheid aus Gelsenkirchen, die Abschiebung zu stoppen, will die Bundespolizei erst nach 10 Uhr erfahren haben, aus Online-Medien.

Freitag, 13. Juli, 11.30 Uhr, Berlin: Bei der Bundespressekonferenz wird eine Sprecherin des Bundesinnenministers gefragt, wann Horst Seehofer vom Termin der Abschiebung erfahren hat. Sie betont zunächst, die Duchführung der Abschiebung und ihre rechtlichen Grundlagen seien Sache des Landes NRW. Seehofer sei "in engem Kontakt mit NRW" gewesen. "Der Bundesminister des Inneren wurde heute Morgen nach Beendigung der Rückführung informiert, sprich: mit Übergabe an die tunesischen Behörden." Generell habe es zwischen Seehofer, der Bundespolizei und den Behörden in NRW "zu jedem Zeitpunkt einen engen Austausch" gegeben.

Montag, 16. Juli, 11.30 Uhr Berlin: Bei der Bundespressekonferenz korrigiert sich Seehofers Sprecherin. Der Minister habe von der Abschiebung am 13. Juli nicht erst nach Beendigung der Maßnahme erfahren, sondern schon am Mittwoch, 11. Juli. "Wir wussten sozusagen von der Bundespolizei, dass es Planungen für einen Flug am 13. Juli gibt. Es gab auch Planungen für weitere, spätere Flüge." Diese Informationen "lagen auch dem Minister vor".

Montag, 16 Juli, 16.30 Uhr, Düsseldorf: NRW-Minister Stamp rechtfertigt in einer Erklärung vor der Presse die Abschiebung. "Behördliche Entscheidungen können nach der Rechtsordnung auch vor gerichtlichen Entscheidungen vollzogen werden", betont der Liberale. Stamp will sagen: Man habe eben ein Zeitfenster genutzt und nicht warten müssen auf die Urteilsverkündung aus Gelsenkirchen. Tags darauf kritisiert Gerichtssprecher Thewes diese Deutung: Die Behörden hätten ja "gewusst, da kommt was".

Zwar könne Stamp behaupten, der Flug sei beim Start noch rechtskonform gewesen, "aber während des Vollzugs der Abschiebung ist diese rechtswidrig geworden". Wenn die Behörden "das Risiko eingingen", trotz eines eventuell drohenden Abschiebeverbots des Verwaltungsgerichts Sami A. außer Landes zu bringen, dann - so Thewes - "müssten die Behörden die Abschiebung so gestalten, dass sie jederzeit abgebrochen werden kann." Thewes sieht deshalb das grundgesetzliche Gebot eines effektiven Rechtsschutzes ausgehebelt: "Rechtsschutz, der zu spät kommt, ist nicht effektiv."

Mittwoch, 18. Juli, gegen 12 Uhr, Berlin: Seehofer korrigiert erneut die Angabe, wann er vom konkreten Abschiebungstermin erfahren habe. "Soweit ich mich erinnern kann, habe ich auf meinem Schreibtisch einen Vermerk vorgefunden am 11. Juli", sagt er. Allerdings sei dort "ein konkretes Datum nicht genannt" worden. Es sei nur mitgeteilt worden, dass der Flug am 12. Juli storniert wurde. Möglicherweise hätten andere im Ministerium den Termin am 13. Juli gekannt, er nicht. Er selbst habe "nach dem Starten des Flugzeugs" von der Maßnahme erfahren - also weder nach Abschluss der Rückführung noch am 11. Juli.

Mittwoch, 18. Juli, Bochum: Die Stadt reicht beim Oberverwaltungsgericht Münster Beschwerde gegen die Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen ein, wonach die Abschiebung rückgängig gemacht werden müsse. Für die Begründung der Beschwerde beim OVG hat die Stadt Bochum bis 13. August Zeit.

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