Artenschutz-Liste:Wer darf überleben - und wer eher nicht?

Wild male Bornean orangutan Pongo pygmaeus on the Buluh Kecil River Borneo Indonesia Southeast

Der Schutz sogenannter "Flaggschiff-Spezies" wie Orang-Utans leuchtet sofort ein.

(Foto: Michael S. Nolan/imago/robertharding)
  • Um alle gefährdeten Spezies auf der Erde zu schützen, fehlen die Ressourcen.
  • Notgedrungen müssen daher manche Arten als besonders schützenswert, andere als weniger wertvoll eingestuft werden.
  • Die Methoden dafür sind vielfältig. Wissenschaftler versuchen etwa zu ermitteln, welchen Beitrag einzelne Arten für ein funktionierendes Ökosystem leisten.

Von Katrin Blawat

Viel Zufall, Willkür und auch Dummheit seien im Spiel gewesen, als die Passagierliste für die Arche Noah erstellt wurde. So zumindest berichtet es ein Holzwurm - "ausdrücklich ein Nicht-Auserwählter" - in der Erzählung "Der blinde Passagier" des Schriftstellers Julian Barnes. Verglichen mit den Erfahrungen des Holzwurms fallen die Entscheidungen, welche Arten besonderen Schutz verdienen, heute zweifellos fundierter aus. Doch gelöst ist das sogenannte Arche-Noah-Problem deshalb noch lange nicht: Um alle gefährdeten Spezies gleichermaßen zu schützen, fehlen die Ressourcen. "Wir können nicht alle Arten retten", sagt Will Pearse von der Utah State University. "Wir müssen welche herauspicken."

Dies bedeute, so schreibt der Evolutionsökologe zusammen mit Kollegen im Fachmagazin Nature Communications, eine "enorme moralische Herausforderung". Es ist auch eine wissenschaftliche Herausforderung, denn wenn notgedrungen einige Spezies als besonders wertvoll, andere hingegen als verzichtbar eingestuft werden müssen, dann soll diese "Arten-Triage" wenigstens auf einer fundierten Grundlage erfolgen.

Tatsächlich gibt es viele verschiedene Ansätze, mit denen sich der Schutz-Anspruch einer Spezies oder einer Tiergruppe ermitteln lässt. Das Problem ist nur: Je nach Methode fällt die Prioritätenliste unter Umständen sehr verschieden aus. Und, entscheidender noch: Perfekt ist keiner der Ansätze. Eine moderne Arche Noah so zu bestücken, dass Ökosysteme möglichst gut erhalten bleiben, ist daher eine äußerst kniffelige Aufgabe. Selbst seit Langem akzeptierte Ansätze erweisen sich in manchen Fällen als unbrauchbar.

Es lässt sich schlicht kaum ermitteln, welchen Beitrag Arten für Ökosysteme liefern

Das zeigt auch die aktuelle Studie von Pearse und seinen Kollegen. Sie überprüften ein Auswahlkriterium, bei dem es weniger um eine einzelne Art geht als um ganze Gruppen von Spezies und deren jeweilige Beiträge zu einem gut funktionieren Ökosystem. Ein Wald zum Beispiel, in dem sowohl kleine Nagetiere leben als auch Mäuse fressende Greifvögel und Pflanzen bestäubende Insekten, wird besser zurechtkommen als ein Gebiet, in dem es ausschließlich Raubtiere gibt. Lebensräume mit hoher sogenannter funktionaler Diversität sind besser gegen Nahrungsmangel, Naturkatastrophen, Seuchen und Schädlingsbefall gewappnet. "Funktionale Vielfalt ist wichtig, weil sie ein Ökosystem gesund und robust hält", sagt Erstautor Florent Mazel von der University of British Columbia in Vancouver.

Das Problem ist nur: Diese Diversität lässt sich kaum messen. Oft weiß niemand genau, welchen Beitrag etwa Wühlmäuse oder Laufkäfer in einem Ökosystem leisten. Also behelfen sich Forscher mit einem Ersatzparameter. Sie konzentrieren sich auf die stammesgeschichtliche Entwicklung (Phylogenie) der Arten. Als schützenswert innerhalb eines Ökosystems gelten dann vor allem Vertreter von Gruppen, die nur weit entfernt miteinander verwandt sind. Denn diese, so die Vermutung hinter dem Ansatz, übernehmen aufgrund ihrer unterschiedlichen Entwicklungsgeschichte jeweils sehr verschiedene Funktionen innerhalb eines Ökosystems.

Diese seit vielen Jahren postulierte Annahme klingt einleuchtend - so sehr, dass sie nach Angaben der Autoren bislang nie umfassend empirisch getestet wurde. Doch trifft sie wirklich zu, und wenn ja, in jedem Fall? Oder gibt es auch Fälle, in denen die Vermutung zwar intuitiv richtig klingt, aber dennoch falsch ist? Das überprüften die Forscher für insgesamt gut 15 000 Säugetier-, Vogel- und Fischarten, für die genügend Daten vorhanden waren. Das Fazit fällt sehr verhalten aus: Es hängt von der jeweiligen Region ab, ob die phylogenetische Vielfalt wirklich mit funktioneller Diversität einhergeht. Doch selbst dort, wo dieser Zusammenhang besteht, ist er oft nur schwach ausgeprägt.

Und es folgt ein noch größerer Einwand: In immerhin gut einem Drittel der Fälle erhält diese Methode die Widerstandskraft eines Lebensraums nicht besser oder sogar schlechter, als wenn man bloß rein zufällig irgendwelche Arten als besonders schützenswert deklarieren würde. Das galt in manchen Regionen etwa für Nager, Fledertiere (zu denen Flughunde und Fledermäuse zählen) und für Watvögel.

Welche Tiere als besonders schützenswert gelten

Auch für den Schutz vieler Säugetiere in der Sahara, im südlichen Afrika und in Teilen Madagaskars scheint der phylogenetische Ansatz nicht der beste zu sein. "Fledermäuse etwa sind ein bemerkenswertes Beispiel für stammesgeschichtliche Diversität", sagt Will Pearse. "Doch in Neu-Guinea geht das nicht mit funktionaler Vielfalt einher." Im Gegenteil, die vielen Fledermaus-Spezies übernehmen dort jeweils ähnliche Rollen in ihrem Lebensraum - ein Widerspruch zu den theoretischen Überlegungen.

Zum Teil könne das an methodischen Beschränkungen ihrer Untersuchung liegen, geben die Autoren zu bedenken. Dennoch folgern sie, der phylogenetische Ansatz, um besonders schützenswerte Arten zu identifizieren, sei "eine riskante Strategie". Die Methode solle zwar nicht gleich verworfen, jedoch weiter empirisch überprüft werden. Praktisch angewendet wird sie im Naturschutz bisher ohnehin nur selten, sagt Marten Winter vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) in Leipzig. Winter war an der Studie nicht beteiligt, das Zentrum hat sie aber gefördert.

Fallstricke haben jedoch auch andere, in der Praxis bereits weiter verbreitete Ansätze zur Priorisierung schützenswerter Arten. Sogar das zunächst so simpel erscheinende Kriterium, wie viele Individuen einer Art noch leben, kann in die Irre führen. Denn gelegentlich erkennen Biologen aufgrund neuer Untersuchungen, dass Vertreter einer vermeintlichen Art eigentlich verschiedenen Spezies angehören. Auf dem Papier könnte sich dann auch der Schutz-Anspruch verschieben - ohne dass sich an der Zahl der Individuen etwas geändert hätte.

An der Spitze der Liste taucht ein Tier auf, von dem die meisten Menschen noch nie gehört haben

Kritisiert wird von einigen Forschern auch die Tendenz, eine Art als besonders schützenswert einzustufen, weil sie endemisch ist. Das heißt, sie kommt ausschließlich in einem eng begrenzten Gebiet vor, etwa auf einer Insel. Dieses Kriterium, so schrieb vor einigen Jahren ein Team um Nick Isaac von der Zoological Society of London (ZSL) im Fachmagazin Plos One, diene vermutlich vor allem deshalb oft als Entscheidungshilfe, weil die Frage nach dem endemischen Vorkommen leichter zu untersuchen sei als andere Faktoren.

Im Gegensatz dazu hat die ZSL ihren eigenen Maßstab entwickelt, um über den Schutz-Bedarf einer Art zu entscheiden. Der sogenannte Edge-Index berücksichtigt - neben dem Grad der Gefährdung - ebenfalls die stammesgeschichtliche Entwicklung einer Art, genauer gesagt, wie viele nah verwandte Spezies noch leben. Je einzigartiger ein Lebewesen ist, desto höher fällt der Edge-Wert aus.

Nach diesen Kriterien hat es unter den Säugern ein Tier auf den ersten Platz der Prioritätenliste geschafft, von dem die meisten Menschen noch niemals etwas gehört haben dürften: der Attenborough-Langschnabeligel, der auf Neuguinea lebt und Eier legt. Auch Platz zwei ging an einen Langschnabeligel.

Unter den Top 100 befinden sich allerdings auch so emblematische Spezies wie der Große und der Kleine Panda, der Asiatische und der Afrikanische Elefant sowie Orang-Utans - typische "Flaggschiff-Spezies". Für deren Schutz setzen sich viele Organisationen unter anderem deshalb intensiv ein, weil die Schicksale solch imposanter Spezies die Menschen stärker berühren als das einer unscheinbaren Art. Ob diese Priorisierung auch wissenschaftlich immer sinnvoll ist, darüber gehen die Meinungen in vielen Fällen auseinander. So bleibt als Quintessenz: Das Arche-Noah-Dilemma lässt sich auf vielen Wegen lösen - jedoch kaum fehlerfrei.

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