Schriftstellerin:Wenn die Ängste endlich weichen

Lena Gorelik, 2016

Die Münchner Schriftstellerin Lena Gorelik schreibt einen Blog mit ihren Gedanken zur Coronakrise.

(Foto: Catherina Hess)

Juden aus Russland haben die Gemeinden verjüngt und verändert

Interview von Veronika Wulf

Etwa 90 Prozent der jüdischen Gemeindemitglieder in Bayern haben Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion. Die Schriftstellerin Lena Gorelik ist eine von ihnen.

SZ: Mit elf sind Sie mit ihrer Familie vor dem Antisemitismus geflohen. Warum ausgerechnet nach Deutschland?

Lena Gorelik: Das war sozusagen das kleinste Übel. Für die USA hätten wir keine Greencard bekommen, und mein Vater konnte nicht nach Israel, weil er Herzprobleme hat und es dort zu heiß gewesen wäre. Er wollte erst auf gar keinen Fall nach Deutschland, weil sein Vater - und eine Menge anderer Verwandter - von den Nazis umgebracht worden sind. Bis er einen antisemitischen Vorfall erlebt und sich gesagt hat: In Deutschland kann es nicht schlimmer werden.

Was ist passiert?

In der Metro in Sankt Petersburg putzte ein Mann seine dreckigen Stiefel an den Knien meines Vaters ab. Der hat gesagt: "Was soll das?" Und der Mann sagte: "Du Drecksjude, geh doch nach Israel." Ich glaube, am meisten schockiert hat meinen Vater, dass keiner eingegriffen hat.

Welche Rolle spielte das Jüdischsein in Ihrer Kindheit in Russland?

Zu Sowjetzeiten wurde ja jede Art von Religiosität unterdrückt, nicht nur die jüdische. Ich wusste, es gibt Synagogen, aber so wie es Museen gibt, nicht als etwas, wo man betet. Jude war für mich ein Schimpfwort auf dem Schulhof. Als mir meine Eltern sagten, ich bin jüdisch, sagten sie auch, ich soll es nicht weitererzählen.

Wie hat sich das verändert, als Sie nach Deutschland kamen?

Ich wurde in den Religionsunterricht in der jüdischen Gemeinde geschickt und war schockiert, zu erfahren, dass das überhaupt eine Religion ist. Ich glaube, ich war die erste Jüdin an meiner Schule. Wenn es im Unterricht um das Judentum ging, den Holocaust oder die Israelpolitik - immer musste ich herhalten. Ich habe dann alles über den Holocaust gelesen, was es so gab, auch, weil ich das Gefühl hatte, ich muss Antworten haben.

Wie wurden Sie in der jüdischen Gemeinde aufgenommen?

Wir waren unter den ersten Russen, die kamen. Wir wurden als Fremdkörper wahrgenommen, der Schweinefleisch zu den Gottesdiensten mitbringt, übertrieben gesagt. Aber als Kind lernt man schnell, was man darf und was nicht.

Hat die Gemeinde es Ihnen leichter gemacht, hier anzukommen?

Das war schon ein Gemeinschaftsgefühl, das ich da gefunden habe. Aber das hätte ich auch bei den Pfadfindern oder im Fußballverein suchen können. Es hat mir gut getan, dass ich nicht allein war, aber es hat mich nicht in der Mehrheitsgesellschaft ankommen lassen.

Wie haben sich die jüdischen Gemeinden durch die Zuwanderer verändert?

Manche hatten kaum noch Mitglieder und haben jetzt Tausend. Ohne die Zuwanderer würde es viele nicht mehr geben. Eine Zeit lang wurde beklagt, die Russen würden die Gemeinden zu Kulturclubs machen, mit Liederabenden und Klezmer statt Religion. Aus religiöser Sicht kann man das natürlich beklagen. Fasst man das Judentum aber weiter, als Gemeinschaft mit demselben kulturellen, biografischen, ethnischen Hintergrund, dann ist das etwas sehr Positives. Das jüdische Leben wurde vielfältiger.

Gab es auch Probleme?

Ja. Wenn zwei 70-Jährige aufeinandertreffen, der eine sagt: "Ich habe Hitler besiegt" und der andere: "Ich habe Auschwitz überlebt", dann sind das schon Gegensätze. Aber ich glaube, diese Probleme wachsen sich heraus.

Sind die jüdischen Gemeinden dadurch auch offener geworden?

Ich glaube schon, dass eine Angst gewichen ist, die vor 20 Jahren noch da war. Die Angst der alten Gemeindemitglieder, sich zu öffnen, verletzt zu werden. Man sagte früher, die leben auf unausgepackten Koffern. Vielleicht haben sie ihre Koffer inzwischen ausgepackt. Und vielleicht hat das gar nichts mit den russischen Juden zu tun, sondern einfach mit der Zeit, die vergangen ist.

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