Bildband:Luxus des Gebrauchten

Countryside
Am Morgen im "Schwanen", Oeschgen.
1943
Morning in the Restaurant "Schwanen",
Oeschgen, 1943

Jakob Tuggeners Bild „Am Morgen im ,Schwanen’, Oeschgen“ von 1943.

(Foto: 2017 Jakob Tuggener Foundation, Uster (Switzerland))

Jakob Tuggener gilt als der Unvollendete unter den Schweizer Fotografen. Der Steidl-Verlag hat die Bildbände, die er in seiner Einzimmerwohnung aufbewahrte, faksimiliert - mitsamt Flecken und Kratzern.

Von Jonas Lages

Der begehrteste Sneaker der Gegenwart ist ein Monument der Hässlichkeit. Demna Gvasalia, der Chefdesigner bei Balenciaga, hat seiner streng limitierten Gummisohlenorgie eine Patina verpasst, die ihre Träger wie Dauergäste im Berghain wirken lässt. Abgestoßen, ausgeblichen, eingesaut. Für 700 Euro. Gebrauchsspuren, diese Zeichen der Erfahrung, die man sich früher selbst erarbeitete, sind ein Luxusgut geworden. Die Frage ist natürlich, ob das nun ein Zeichen der gegenwartsflüchtigen Sehnsucht nach Geschichte und Vergangenheit ist oder ein Symptom der Beschleunigung und Ungeduld, die der Mühsal des eigenen Erlebens aus dem Weg geht, den echten Schmutz meidet und nicht warten will, bis sich das Leben in die eigenen Dinge eingeschrieben hat.

Eine solch teure Fiktion von Vergangenheit lässt sich auch am anderen Ende der Distinktionsskala studieren. Der Steidl-Verlag hat - zum Preis der Balenciaga-Sneakers - eine auf 1 000 Exemplare limitierte, zwölfbändige Werkauswahl des Schweizer Fotografen Jakob Tuggener (1904-1988) in eine handgefertigte Holzkassette gesteckt und eine DVD mit dessen Filmexperimenten beigelegt: Man sieht Landleben, Feste, Autorennen, Industrie.

Tuggener, der als der Unvollendete der Schweizer Fotografie gilt, stellte mehr als siebzig Buchmaquetten her, veröffentlichte zu Lebzeiten aber nur einen Bildband nach seinen Vorstellungen: den Fotoessay "Die Fabrik" (1943), der - zur Entstehungszeit ein Misserfolg - mit seiner expressionistischen Stummfilmästhetik als Klassiker der Industriefotografie gilt.

Nun hat Steidl ein Dutzend der Bücher, die Tuggener während der letzten 26 Jahre seines Lebens im Souterrain seiner Einzimmerwohnung verwahrte, als Faksimiles herausgegeben. Gebrauchsspuren und Patina der Einbände inklusive. Flecken und Kratzer hier, abgestoßene Ecken und vergilbtes Leinen dort - alles reproduziert.

Bei dieser Treue zum Original überrascht es schon fast, dass man den Berliner Geruchskomponisten Geza Schön, der für Steidl bereits den Duft von druckfrischen Büchern in ein Parfum verwandelte, nicht bat, den Bänden ein bisschen Kellergeruch einzuhauchen. Vom druckfrischen Odor getäuscht, gerät man jedenfalls in einen haptischen Taumel, weil an den Büchern die Texturen der Benutzung zwar sichtbar sind, aber die Finger dort, wo sie die Rille eines Kratzers erwarten, über eine glatte Oberfläche streichen. Die Ästhetik des Glatten und Reinen trifft auf den Wunsch nach Vergangenheit, die Zeichen der Vergänglichkeit sind vom Schmutz der Zeit befreit. Während echte Gebrauchsspuren Wiederverkaufswerte verringern, wird hier, wie bei Balenciaga, eine Neuwertigkeit des Gebrauchten geschaffen, eine materielle Fiktion von Vergangenheit.

Nun sind Bücher und Schuhe zwar Sammlerobjekte, aber ein Bildband hat mehr Inhalt als eine Schuhsohle. In diesem Fall sind es Fotos und damit wird die Sache noch vertrackter. Denn die Fotografie lebt ja von dem Versprechen, was sie zeigt, sei so einmal gewesen. Deshalb versenkt man sich, im Wissen um die Unwiederbringlichkeit des festgehaltenen Moments, in seine fotografische Kristallisation und glaubt, durch ein Fenster in die Vergangenheit zu schauen. Und hier versuchen nun die Bildträger diese Poetik zu reproduzieren, indem sie eine Zeitgenossenschaft simulieren, die nicht gegeben ist.

Und die Bilder selbst? Viele Aufnahmen der Hafenarbeiter in Antwerpen und der Feierwütigen in St. Moritz haben den Charme des munter drauflos Fotografierens, oft kann man regelrecht zusehen, wie der Moment, den Tuggener einfangen wollte, entwischt. So wird die Bedingung von Fotografie - die Präsenz des Fotografen - sichtbar; das Fenster zur Vergangenheit ist beschlagen. An anderer Stelle experimentiert Tuggener mit fragmentierten und vergrößerten Bildausschnitten. Bei einem Bild hat er das Gesicht einer Frau, halb verborgen hinter der Schulter ihres Tanzpartners, so weit vergrößert, dass man nicht weiß, wo das Korn des Films aufhört und die Wiedergabe der Wirklichkeit beginnt.

Am eindrücklichsten in diesem Dutzend sind die zwei Bände "Schwarzes Eisen" und "Maschinenzeit" in denen Tuggeners Dramaturgie der Bildfolge und des Layouts voll aufgeht und ihm die Kenntnis der Maschinenindustrie, die er sich als freier Fotograf durch Auftragsbroschüren und Jubiläumsbücher erarbeitete, zugutekommt. Zwischen Porträts, Totalen und Detailaufnahmen entsteht in den kontrastreichen, assoziativen Bildströmen ein ganz eigener Rhythmus. Das ist die Gabe der besten Fotografen: aus einer Nichtigkeit wie zu Boden gefallenen Eisenspänen ein Bild zu destillieren, von dem eine Aura ausgeht wie von echten Gebrauchsspuren.

Jakob Tuggener: Bücher und Filme. Herausgegeben von Martin Gasser. Steidl Verlag, Göttingen 2018. 1336 Seiten, 700 Euro.

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