Kino-Boom in der Krise:Paläste des Vergessens

Eskapismus vom Feinsten: Die Amerikaner kaufen Kinokarten wie seit zwanzig Jahren nicht mehr - eine Spurensuche im lokalen Multiplex.

Jörg Häntzschel

Die Kreditkarte gesperrt, der Job verloren, die Wohnung zwangsgeräumt. Wie wär's mit Kino? Das Regal Union Square Stadium, ein New Yorker Multiplex mit 14 Sälen, preist zum Beispiel "Last House on the Left" an - ein Wochenendausflug, der in einer zermürbenden Gewaltorgie enden wird. Oder "Taken": zwei verwöhnte Girls aus Los Angeles auf Europa-Tour, die von albanischen Mafiosi als Sexsklavinnen versteigert werden. Dazu Popcorn, Nachos und Hotdog-Combo. Alles klar?

Kino-Boom in der Krise: Leuchtende Reklamen locken die Kinojünger in die Säle.

Leuchtende Reklamen locken die Kinojünger in die Säle.

(Foto: Foto: Reuters)

Und sie kommen in Scharen. Während Schaufenster zugenagelt werden, Restaurants leerstehen und an fast allem gespart wird, kaufen die Amerikaner so viele Kinokarten wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. In den letzten drei Monaten waren es rund 16 Prozent mehr als im Jahr zuvor, der Online-Ticketservice Fandango hatte das beste Quartal seiner Geschichte.

Trotz Internet, Kabelfernsehen und Computerspielen scheint ein altes Hollywood-Gesetz noch immer zu gelten: Nie sind die Leute gieriger auf Filme als in schlechten Zeiten. Auch während der Great Depression, so die immer wieder bemühte historische Analogie, drängten die Menschen vor die Leinwände. Die Armen standen Schlange, Hollywood erlebte eine goldene Ära. "Es ist kein Geheimnis: Die Leute wollen ihre Sorgen vergessen, sie wollen nicht allein sein", sagt Martin Kaplan, der an der University of Southern California die Unterhaltungsindustrie analysiert.

Doch der Eskapismus der dreißiger Jahre folgte simpleren Gesetzen. Der Kinobesuch war das einzig bezahlbare Vergnügen. Im samtenen Glanz von Fred Astaire und Ginger Rogers, im Strahlen der Leinwand-Götter konnte man von einer besseren Zukunft träumen.

Gerne erzählte man damals die sogenannten rags-to-riches-Märchen, die Geschichten von den Prinzessinnen aus der Gosse. Heute jedoch sind sie nur noch dann glaubwürdig, wenn ihre Protagonisten aus indischen Slums stammen. "Slumdog Millionär" hält sich - als einziger Oscargewinner - seit Wochen auf den ersten Plätzen.

Nur eine andere herzerwärmende Geschichte bieten die amerikanischen Kinos zur Zeit: "The Race to Witch Mountain", ein narratives Offroad-Abenteuer, in der zwei außerirdische Waisenkinder, ihr vom amerikanischen Militär beschlagnahmtes Mutterschiff suchen. Sie schlagen nicht nur die Armee, sondern auch den Alien-Roboter in die Flucht, der hinter ihnen her ist. Der Film löste vergangenes Wochenende die düstere Comic-Verfilmung "Watchmen" von Platz eins der Box-Office-Charts ab.

Jetzt hilf aber nur die Empirie - also hinein in "Taken". Wie Liam Neeson seine Tochter aus dem albanischen Sexklaven-Dasein befreit, das bedient die niedersten Instinkte Amerikas, da zeigt sich unverhohlener Zynismus: Wer sich ihm in den Weg stellt, wird über den Haufen geschossen, wer noch Informationen über die Tochter hat, zuvor mit Elektroschocks gefoltert. Zirka hundert Tote später dürfen sich dann alle wieder in Los Angeles, nur leicht beschädigt, in den Armen liegen. "Das war die beste Komödie seit langem", prusten die Sitznachbarn, erkennbar herablassend, aber nicht unfröhlich.

"Taken" hat in den traditionell eher ruhigen Filmmonaten Januar und Februar schon mehr als 100 Millionen Dollar eingespielt - genau wie "Paul Blart", der dickliche aber sehr engagierte "Kaufhaus-Cop" und Clint Eastwoods "Gran Torino". "Slumdog Millionär" hat diese Marke auch schon fast erreicht. Auch das ist ein Rekord, soviele Kassenknüller lieferte Hollywood um diese Zeit noch nie.

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"Der Teufel trägt Prada" für Krisenzeiten

In die Hit-Region wird "The Last House on the Left", das Remake des Debüts von Wes Craven, kaum vorstoßen - der Film wirkt dann doch zu beunruhigend. Hier, im Kino nebenan, ist schon der blaue Himmel giftig, jedes Vogelgezwitscher schrill vor Unheil. Auch die Vergewaltigung, vor der man den Saal lieber verlassen sollte: großartig. Und erst der brennende und explodierende Kopf des Bösewichts in der Mikrowelle: Hut ab! Dutzende Zuschauer geben während der Vorführung auf, der Rest knuspert stoisch sein Popcorn, nur gelegentlich mit den Schlägen aufstöhnend.

Müsste in diesen Zeiten nicht eher ein Film wie "Confessions of a Shopaholic" einschlagen - eine Art "Der Teufel trägt Prada" für Krisenzeiten? Sind nicht alle Amerikaner ein bisschen wie Rebecca, die pathologisch shoppende Jung-Newyorkerin mit dem alles verschlingenden Kleiderschrank und den explodierenden Kreditkartenschulden? Der Groß-Produzent Jerry Bruckheimer habe das Ende nach dem Finanzcrash noch einmal eigens an die neue Empfindlichkeiten des Publikums angepasst, heißt es. Aber explodierende Schulden im Kino? Das ist wohl zu nah dran - nur zwei Menschen haben sich im Regal Union Square in diesen Film verirrt.

Überhaupt nicht komisches Sozialdrama

Schwerer ist zu erklären, warum die hingewurschtelte schwarze Klamotte "Tyler Perry's Madea Goes to Jail" sich seit Wochen dauerhaft in den Top Ten hält. Madea ist eine alle um den Verstand bringende Oma aus Atlanta, die vom Regisseur Tyler Perry selbst gespielt wird, die absurdeste und witzigste Drag-Queen des US-Entertainments, die allerdings den Sprung in die Auslandsmärkte bisher nicht recht geschafft hat. Ihrem Camp-Dialekt könnten die Amerikaner trotzdem ewig zuhören. Darunter scheint auch ein erstaunlich ernstes, überhaupt nicht komisches Sozialdrama durch: Prostitution, Gefängnis, Misshandlung und Drogen. Den Spaß in Saal zehn scheint das nicht zu dämpfen - die vergleichsweise doch eher reichen New Yorker betrachten den Film, als spiele er in einem anderen Land.

Gleich nebenan läuft währenddessen "Coraline" in 3D - und hier sitzen an diesem Abend die meisten Zuschauer: mit Plastikbrillen und offenem Mund. Der berückende Animationsfilm von Henry Selick ist wohl für Kinder gedacht, aber die Geschichte der kleinen Coraline, die durch eine verbotene Tür des elterlichen Hauses in ein Schattenreich hinabsteigt, wirkt doch ziemlich verstörend. Aber schon die 3-D-Technik, die sich in den US-Kinos immer mehr durchsetzt, schlägt alle in Bann - Insektenschwärme schweben über den ersten Stuhlreihen, und wenn die Hexe ihre klappernden Stahlfinger nach Coraline ausstreckt, zuckt man unwillkürlich im Sessel zurück. Als das Mädchen am Ende seine Eltern gerettet hat, bricht der Saal in erleichterten Applaus aus.

Nicht alle glauben daran, dass es wirklich die Krise ist, die die Leute ins Kino treibt. Hollywood hole jetzt nur die Ernte der Boomjahre ein, als man dank der Investitionen von Hedgefonds im Geld schwamm, lautet eine Theorie. Statt die aussichtsreichsten Filme für den Sommer aufzuheben, habe man jetzt selbst in sonst ruhigen Monaten wie diesem einen vollen Bauchladen. Die Studios hätten das Publikum in den letzten Jahren mit zu schwierigen Stoffen überfordert, lautetet eine andere Erklärung. Nach den Enttäuschungen mit Filmen wie "There Will be Blood" oder "No Country for Old Men" habe man das Ruder herumgerissen.

Es sieht ganz so aus, als würde die Kette der Hits nicht so schnell abreißen. Schon dieses Wochenende droht in "Knowing" mit Nicholas Cage wieder die Auslöschung der gesamten Menschheit. Aber diesmal wirklich! Immerhin spart man sich dann das Geld für die Krankenversicherung.

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