Türkei:Nicht wirklich frei

Mesale Tolu

Unterstützung einer linksradikalen Organisation wirft ihr die Justiz vor: die Angeklagte Meşale Tolu im Dezember 2017.

(Foto: Lefteris Pitarakis/dpa)

Die deutsche Journalistin hat als politische Gefangene in der Türkei düstere Monate hinter Gittern erlebt. Nun kann sie heimkehren mit ihrem Sohn - aber ohne ihren Mann. Für sie ist das Drama noch nicht vorbei.

Von Mike Szymanski

An manchen Tagen muss es sich für Meşale Tolu angefühlt haben, als würde sie die Gitter um sich herum nie wirklich los. Im Dezember war sie zwar aus dem Frauengefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakırköy entlassen worden. Sieben düstere Monate in Haft lagen hinter ihr. Aber wirklich frei fühlen konnte sich die 33-jährige Journalistin und Übersetzerin nicht. Das Gericht hatte der Neu-Ulmerin die Ausreise nach Deutschland untersagt. Einmal die Woche musste sie sich bei den Behörden melden. Sie versuchte trotzdem, Freiheit zu atmen. Sie ging in Istanbul zu Demonstrationen - für Freiheitsrechte. Aber auch dort haben Polizisten schnell Absperrgitter um die Grüppchen errichtet.

Tolu sagte einmal über die unfreie Zeit jenseits des Gefängnisses, wirklich frei äußern könne man seine Meinung in der Türkei nur noch "innerhalb dieses Zaunes". Für Tolu hat er sich jetzt geöffnet. Sie darf die Türkei verlassen, mit ihrem kleinen Sohn, der einige Zeit bei ihr im Gefängnis verbracht hatte. Aber ohne ihren Mann, Suat Çorlu, der ebenfalls in der Türkei wegen angeblichen Terrorverdachts zwischenzeitlich verhaftet und angeklagt wurde. Ihre Ausreisesperre sei nach Einspruch ihrer Anwälte aufgehoben worden, schrieb Tolu am Montag im Kurznachrichtendienst Twitter. Und weiter: "Diese Entwicklung bedeutet aber nicht, dass alles vorbei ist."

Der Fall Tolu dürfte noch lange nicht ausgestanden sein - nicht solange eine Familie getrennt ist, nicht solange das Verfahren vor Gericht weiterläuft. Und dennoch tut sich etwas im deutsch-türkischen Miteinander, wenn zumindest die junge Mutter, wie ihr Unterstützerkreis angibt, am 26. August wieder nach Deutschland zurückkehrt. Hier möchte sie ihrem Sohn "Sicherheit und Geborgenheit" bieten.

Er herrschte Eiszeit zwischen Berlin und Ankara, solange Deutsche von der türkischen Justiz wie politische Geiseln festgehalten wurden, und teilweise tut sie das noch immer. Tolu zählt zu den prominenteren Fällen. Der Berliner Menschenrechtler Peter Steudtner war im Oktober 2017 nach dreieinhalb Monaten Untersuchungshaft entlassen worden und nach Deutschland zurückgekehrt. Der Korrespondent der Zeitung Die Welt, Deniz Yücel, kam im Februar nach mehr als einem Jahr aus der Untersuchungshaft frei.

Immer ging es dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan darum, angebliche Stärke zu demonstrieren. Yücel bezeichnete er auf großer Bühne als "deutschen Agenten" und "Terroristen". Solange er im Amt sei, werde Yücel nicht freikommen. Den Betroffenen hielt die Justiz Unterstützung von oder gar Mitgliedschaft in Terror-Organisationen vor. Mal ist es die PKK, mal die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, die Erdoğan für den Putschversuch im Sommer 2016 verantwortlich macht. Meşale Tolu wird von der Justiz vorgeworfen, zur linksradikalen MLKP zu gehören, die in der Türkei als Terrororganisation verboten ist. Als Belege führt die Anklage an, dass Tolu an zwei Beerdigungen teilgenommen habe, jener eines getöteten MLKP-Militanten und jener eines Kämpfers der syrisch-kurdischen YPG-Miliz, die der türkischen Regierung als Ableger der PKK und somit als Terrororganisation gilt.

Tolu sagte dazu, sie habe die Beisetzungen als Berichterstatterin besucht. Den Vorwurf, Mitglied der MLKP zu sein, wies sie zurück. Sie meint, es sollte durch ihre Festnahme nur eine kritische Stimme zum Verstummen gebracht werden. Tolus Fall stand immer ein bisschen im Schatten der beiden anderen. Yücel arbeitet für die Welt, Tolu, die nicht ständig in der Türkei lebt und ihren festen Wohnsitz in Neu-Ulm hat, für die kleine linke türkische Nachrichtenagentur Etha. In Steudtner war ein Menschenrechtler betroffen, der zuvor überhaupt nichts mit der Türkei zu tun hatte: Wirklich jeden kann es treffen, das war das Gefühl, das sich nach seiner Verhaftung breitgemacht hatte.

Auf Betreiben des damaligen Außenministers Sigmar Gabriel (SPD) setzte sich Parteikollege und Ex-Kanzler Gerhard Schröder hinter den Kulissen bei Erdoğan für die Deutschen in türkischer Haft ein. Erst kam Steudtner frei, dann - nach persönlichem Einsatz auch von Gabriel - Yücel. Nun: Meşale Tolu.

Noch sind sieben Deutsche aus offenbar politischen Gründen in der Türkei in Haft

"Ich bin erleichtert, dass die gegen Meşale Tolu verhängte Ausreisesperre aufgehoben wurde", sagte am Montag Außenminister Heiko Maas. Dies sei "ein Schritt für die Verbesserung unseres Verhältnisses zur Türkei". Nur: Dabei bleiben dürfe es nicht. Noch seien sieben weitere Deutsche "aus politischen und für uns nicht nachvollziehbaren Gründen inhaftiert". Aber die Phase der Wiederannäherung ist längst angebrochen. Wenn Erdoğan Verbündete sucht, kann er unglaublich schnell vergessen. Und jetzt braucht er gerade Verbündete dringender denn je. Er hat sich auf einen folgenschweren Handelskonflikt mit US-Präsident Donald Trump eingelassen. Weil die Türkei auch den US-Pastor Andrew Brunson festhält, hatte Trump Sanktionen und Strafzölle gegen die Türkei verhängt und damit den anhaltenden Fall der türkischen Lira dramatisch beschleunigt. Die Wirtschaft, bislang das Rückgrat von Erdoğans politischem Erfolg, droht zu kollabieren.

Es ist nicht mehr zu übersehen, wie die Türkei versucht, das Verhältnis zur EU in Ordnung zu bringen. Vergangene Woche haben die Behörden zwei griechische Soldaten aus der Haft entlassen, deren Festnahme die Beziehungen zum Nachbarn Griechenland schwer belastet hatte. Taner Kılıç, Ehrenvorsitzender der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, kam ebenfalls überraschend aus der Untersuchungshaft frei. Zwei Jahre nach dem Putschversuch lief im Sommer der Ausnahmezustand aus, der die Rechte der Bürger massiv eingeschränkt hatte.

So gesehen wird sich doch manches geändert haben, wenn Erdoğan am 28. September zu einem Staatsbesuch in Berlin erwartet wird - zumindest aus deutscher Sicht. Eine Woche zuvor kommen die Minister für Finanzen und Wirtschaft beider Länder zusammen. So eng war der Kontakt lange nicht mehr. SPD-Chefin Andrea Nahles hat bereits eine Debatte über mögliche Finanzhilfen für die Türkei angestoßen. Dabei könnte fast in Vergessenheit geraten, dass Selahattin Demirtaş als einer der wichtigsten Oppositionspolitiker seit fast zwei Jahren in Haft sitzt, ohne dass Bewegung in diesen Fall gekommen ist.

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