Schule in NRW:Wie geht's euch eigentlich?

Schule

24 Fragen umfasst der Fragebogen, den Piechnik und seine Schüler erstellt haben: Fühlt ihr euch von der Schule belastet? Habt ihr Zeit für Hobbys? Seid ihr glücklich?

(Foto: dpa)

2015 startete an einer Gesamtschule in Herne eine unerhörte Umfrage: Nicht um die Leistung der Schüler sollte es gehen, sondern um ihr Befinden. Die Ergebnisse: "erschreckend". Jetzt sollen sie die Politik verändern.

Von Paul Munzinger

Mit dem Schulsystem in Deutschland, sagt Carsten Piechnik, ist es wie mit der Anordnung der Buchstaben auf einer Tastatur. Die wurde einst für Schreibmaschinen entworfen und sollte einen Zweck erfüllen: dass sich die Hebel nicht ins Gehege kommen, wenn sie die Farbe aufs Papier hämmern. Dieser Zweck hat sich längst erübrigt, die Ordnung hat keinen Sinn mehr. Und doch sieht die Tastatur auch heute noch so aus wie zu Zeiten der Schreibmaschine. Weil es leichter ist, sagt Piechnik, ein schlechtes System zu erhalten, als es zum Guten zu verändern.

Carsten Piechnik hat sich entschieden, es trotzdem zu versuchen.

Piechnik unterrichtet Biologie und Pädagogik an der Erich-Fried-Gesamtschule in Herne, mitten im Ruhrgebiet. Der 49-Jährige ist ein jugendlicher Typ, im linken Ohr steckt ein Ohrring, sein T-Shirt ziert ein gewagtes Palmenmuster. Dem Besucher bietet Piechnik das Du an, noch ehe "die Macchiato" fertig ist. Redet er von seinen Schülern, sagt er "Kiddies". Dass Piechnik von der Schülervertretung seit Jahren zum SV-Lehrer gewählt wird, als Kontakt ins Lehrerzimmer, verwundert nicht.

Als SV-Lehrer war Piechnik auch dabei, als an seiner Schule vor drei Jahren eine unerhörte Idee geboren wurde. Im Sommer 2015 musste die Schule eine Anordnung von oben umsetzen, die mehr Unterricht einforderte und so den Stundenplan sprengte. Die Alternativen waren unschön. Die Schüler in der nullten Stunde antanzen lassen? Die Mittagspause streichen? Samstagsunterricht? Weichen musste am Ende die Mittagspause, dazu wurde die 10. und 11. Stunde eingeführt, die Schule also noch weiter in den Nachmittag ausgedehnt.

Und die Schüler? Begannen Fragen zu stellen. Warum es für sie eigentlich keine Arbeitszeitregelungen gebe. Wie es sein könne, dass ein Schüler vor zehn Jahren im Schnitt 25 Schulstunden pro Woche hatte und heute 34. Warum die Oberstufenschüler eigentlich keine Zeit mehr hätten, sich in der Schülervertretung zu engagieren. Warum in Tests wie Pisa und Co. ständig ihre Leistung erhoben werde, aber niemand frage, wie es ihnen geht, in der Schule, im Leben.

Also starteten Piechnik und seine Schüler selbst eine Umfrage. Sie richtete sich an Schüler in ganz NRW, mit 24 Fragen: Fühlt ihr euch von der Schule belastet? Was verbindet ihr mit Schule? Habt ihr Zeit für Hobbys? Seid ihr glücklich? Seit 2016 läuft die Umfrage, die jüngste Auswertung stammt aus dem Herbst 2017, sie basiert auf den Antworten von 1250 Schülern aus NRW - mehr also, sagt Piechnik, als bei Pisa. Die Ergebnisse hätten die schlimmsten Erwartungen übertroffen. 70 Prozent fühlen sich demnach belastet, 80 Prozent verbinden mit der Schule Stress, drei Viertel Druck, mehr als die Hälfte Überforderung. Freude, Glück, Ausgelassenheit? 20 Prozent, neun Prozent, vier Prozent.

"Sollte Bildung nicht viel breiter sein?", fragt Piechnik

Doch nicht nur Schüler wurden befragt. Piechnik und seine Schüler schickten Fragebögen auch an Vereine, die von einem Rückgang jugendlicher Mitglieder berichteten. Fast 90 Prozent beklagten einen Rückgang sozialer Kompetenzen bei den Jugendlichen. Alle meldeten, dass mehr Jugendliche über Angst und Druck in der Schule berichteten. Auch medizinische Beratungsstellen wurden angeschrieben. Die Ergebnisse: Schulisch bedingte Belastungssymptome hätten deutlich zugenommen: Erschöpfung, Depression, Schlaflosigkeit. Acht von zehn Einrichtungen empfahlen, den schulischen Druck zu senken.

Piechnik weiß, dass die Umfrage Schwächen hat. Keiner kann sagen, ob nur Schüler abgestimmt haben; die Umfrage ist online, jeder kann teilnehmen. Und doch summieren sich die Antworten für ihn zu einem Gesamtbild, das zeige, wie weit die Schule sich von ihrem Auftrag entfernt habe. Alles sei auf Leistung zugeschnitten, nur sie werde mit großem Aufwand gemessen; eine Lernstandserhebung in Deutsch in der 8. Klasse etwa umfasse 150 Seiten. Den Tests aber gehe es nicht um ein ganzheitliches Bild. Pisa etwa interessiere sich nur für drei Bereiche: Deutsch, Mathe, Naturwissenschaften. "Sollte Bildung nicht viel breiter sein?", fragt Piechnik.

"Über die Jugendlichen in der Schule wissen wir gar nichts"

Er kann sich bei dem Thema in Rage reden. Warum betreibe man nicht den gleichen Aufwand, um herauszufinden, wie kreativ die Schüler sind? Wie demokratiefähig? Wie sozial? Die einzige Antwort auf diese Fragen, sagt Piechnik, seien Aktionstage. Gegen Essstörungen, Mobbing, Internetsucht, Gewalt, illegale Autorennen. "Wir tun so, als könnten wir bei den Schülern einfach einen Schalter umlegen: Jetzt weißt du es, jetzt ändere dein Leben." Das reiche aber nicht. Wenn er seinen Sohn dazu bringen wolle, sich gesünder zu ernähren, dann müsse er die Veränderung mit ihm leben: Müsli essen, einkaufen, Gemüse schnippeln. Tag für Tag.

Für Piechnik gehört das zu den unauflöslichen Widersprüchen, in die die Politik die Schule verstrickt habe - und die Lehrer und Schüler zu zerreißen drohten. Mündige Bürger solle sie hervorbringen - lasse den Schülern aber keine Wahl, was sie lernen wollen. Demokratie solle sie vermitteln - und dann müssten Schüler wegen einer Geschichtsklausur die Klassenfahrt nach Auschwitz absagen. Individuell sollen die Lehrer unterrichten - und allen Schülern am Ende die gleichen Aufgaben stellen. Behinderte Schüler und Flüchtlingskinder soll sie eingliedern - und all das in einem Schulsystem, das noch immer den Geist der Kaiserzeit atme und auf Selektion nach Leistung basiere. Sozial denken und handeln sollen die Schüler, auch dieses Beispiel nennt Piechnik - und wenn sie dann in einer Prüfung kooperieren, sind sie durchgefallen.

Carsten Piechnik, Gesamtschullehrer aus Herne

Carsten Piechnik, 49, ist Gesamtschullehrer in Herne.

(Foto: Paul Munzinger)

Er fordere nichts, betont Piechnik. Er und seine Schüler wollten mit der Umfrage Anregungen geben, Denkanstöße. Also haben sie Politiker eingeladen, um über die Ergebnisse zu reden und über Konsequenzen. Die Diskussionen, sagt Piechnik, seien enttäuschend gewesen. Die Politiker hätten sich nur gegenseitig die Schuld zugeschoben. Das hat Rot-Grün verbockt, das war Schwarz-Gelb. Bringt nichts, hätten die Schüler gesagt; wir müssen da hin, wo die Bedingungen gemacht werden. Im November 2017 reichten sie beim Landtag in Düsseldorf eine Petition ein: "Schulpolitik auf dem falschen Weg".

Anfang Juli lud der Petitionsausschuss zu einem Treffen ein. Gute Gespräche habe es gegeben, sagt Piechnik. Je mehr sie ihm zuhöre, habe ihm eine Frau gestanden, umso mehr schäme sie sich, Bildungspolitikerin zu sein. Doch ein "bisschen schiefgelaufen" sei auch dieser Termin. Weil die wichtigen Leute eben nicht da waren: die vom Schulministerium.

Dort heißt es, man sei nicht eingeladen worden. Gedanken zur Petition hat man sich aber gemacht, die Stellungnahme des Ministeriums liegt der SZ vor. Dass der Prüfungsstress zugenommen habe, sei falsch, ebenso der Vorwurf, dass nur die Leistung der Schüler gemessen werde. Zuletzt habe sich eine Pisa-Sonderauswertung mit der Frage befasst, wie es den Schülern gehe; 73 Prozent gaben an, zufrieden zu sein. 2017 wurden die Ergebnisse veröffentlicht. Das Ministerium verweist zudem auf die Jako-o-Bildungsstudie, die 2016 ermittelte, dass 82 Prozent der Schüler gerne zur Schule gingen. Befragt wurden allerdings nicht die Schüler, sondern ihre Eltern.

Peter Strohmeier überzeugt das nicht. Auch er sagt: "Über die Jugendlichen in der Schule wissen wir gar nichts." Der emeritierte Soziologieprofessor aus Bochum hat vor einigen Jahren selbst mit einer Studie begonnen, die das Umfeld der Schüler ausloten soll: Familie, Nachbarschaft, Schulklima. Inspiriert wurde Strohmeier von einer Reise nach Kanada, wo solche Tests selbstverständlich seien. Zufällig hat auch er Siebt- und Neuntklässler in Herne befragt - und dann festgestellt, dass es in der Stadt eine Schule gab, die bereits etwas Ähnliches machte: die von Carsten Piechnik.

Strohmeier ist überzeugt, dass die Bedingungen, unter denen die Schüler leben und lernen - ihr Wohlbefinden -, ausschlaggebend für ihre Leistungen sind, angefangen damit, ob sie zu Hause ein Frühstück bekommen oder nicht. Doch dafür reiche es nicht aus, wie bei Pisa einen bundesweiten Schnitt zu erheben. An jeder Schule seien die Umstände anders. Sein Ziel sind lokale Untersuchungen, auf die eine Kommune gezielt reagieren kann. Im Sommer hat Strohmeier seine Studie vorgestellt. Mehr als 40 Prozent der befragten Schüler gaben an, sich in der Schule missachtet zu fühlen. Ein Viertel der Schüler aber, sagt Strohmeier, habe sich bedankt, dass sie einmal selbst befragt wurden.

Das Wohlbefinden der Schüler - daran würde auch Carsten Piechnik die Schule ausrichten, wenn er sie neu erfinden dürfte. Nach den Sommerferien soll es ein neues Treffen mit dem Petitionsausschuss geben. Das Ministerium hat schon zugesagt.

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