Sozialsystem:Die Sozialabgaben bevorzugen die Reichen

Sozialsystem: Wohnhäuser in der Schleißheimerstraße in München

Wohnhäuser in der Schleißheimerstraße in München

(Foto: Jessy Asmus)

Ob arm oder reich: Die Sätze für die Sozialabgaben sind für alle praktisch gleich hoch. Das ist ein Problem. Da hilft es auch nichts, dass die große Koalition jetzt die Beiträge ein bisschen senkt. Deutschland braucht ein ganz anderes Konzept.

Kommentar von Bastian Brinkmann

Es ist nur ein kleiner Schritt, den die große Koalition wagt: Union und SPD haben beschlossen, die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung um 0,5 Prozentpunkte zu senken. Das war der bis zuletzt umstrittene Teil des Rentenpakets, das am Mittwoch im Kabinett beschlossen wurde. Von den 0,5 Prozentpunkten profitieren je zur Hälfte Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Wer also 2000 Euro brutto im Monat verdient, bekommt von 2019 an fünf Euro mehr. Das ist nicht viel für einen Haushalt, in dem das Geld knapp ist.

Die Rechnung offenbart das entscheidende Problem der deutschen Sozialversicherung: Sie benachteiligt Geringverdiener. Sich dieses Problems anzunehmen, wäre ein wirklich großer politischer Schritt. Den aber wagt bislang niemand.

Mehr als das Bruttogehalt interessiert die Menschen, wie viel Geld tatsächlich aufs Konto kommt. Der Arbeitgeber überweist von der Bruttosumme einerseits die Steuern ans Finanzamt und andererseits die Sozialabgaben an die Kassen. Die Steuersätze sind in Deutschland progressiv gestaltet, das heißt: Wer mehr verdient, muss auch anteilig mehr zahlen. Das ist ein einfaches und gerechtes Prinzip, das leider für die Sozialversicherungen nicht gilt.

Die Beitragssätze für das Rentensystem und die gesetzlichen Krankenkassen, für die nun reformierte Arbeitslosenversicherung und die Pflegeversicherung sind dagegen praktisch für alle gleich. Fast 20 Prozent vom Bruttolohn müssen an Sozialabgaben gezahlt werden; das meiste fließt für Rente und Gesundheit. Weil dieser Wert für alle gleich ist, wirken die Abgaben wie eine Flat Tax - eine Einheitssteuer für Kleinstverdiener ebenso wie für Millionäre. Ein einheitlicher Steuersatz für Arm und Reich hätte in Deutschland keine gesellschaftliche Mehrheit. Bei den Sozialabgaben ist das aber die Realität.

Für Geringverdiener sind die Sozialabgaben zu hoch

Die Folgen sind vor allem für die Gruppen dramatisch, die eigentlich potenzielle SPD-Wähler wären: Für Geringverdiener sind die Sozialabgaben zu hoch (PDF). Das trifft besonders Alleinerziehende, und damit vor allem Frauen. Es wäre gerecht, gerade diese Menschen zu entlasten, wenn sie arbeiten gehen.

Das deutsche Sozialsystem bestraft sie bislang sogar. Wenn ein Alleinerziehender mit zwei Kindern im Monat 1700 Euro brutto verdient und in einen besseren Job mit etwas mehr Gehalt wechseln möchte, lohnt sich das nicht: Er hat unterm Strich netto weniger Geld als vorher, weil die Sozialabgaben anfallen und Transferleistungen wegfallen (PDF).

Das deutsche Sozialsystem ist eine historische Errungenschaft. Das System ist so angelegt, dass individuelle Einzahlungen und Auszahlungen in einem fairen Verhältnis stehen müssen. Die Logik: Da alle Menschen in etwa gleich lange leben und in gleichem Maße krank werden, kosten sie die Sozialkassen auch gleich viel. Daher müsse auch der gleiche Satz für alle erhoben werden.

Und tatsächlich: Ein Milliardär kann nie so krank oder so alt werden, dass er die Kassen Millionen mehr kosten würde als andere Menschen. Daher sind die Sozialabgaben in Deutschland sogar gedeckelt, das Mittel: die Beitragsbemessungsgrenze. Wer 8000 Euro im Monat verdient, muss die gleiche Summe in die Rentenkasse einzahlen wie jemand, der 6500 Euro verdient.

Der individuelle Anspruch und die einheitliche Einzahlung sind seit Bismarck im deutschen System angelegt und auch grundgesetzlich geschützt. Sie zu ändern, bedarf eines großen gesellschaftlichen Konsenses. Allerdings bekommen die Rentenkassen und die gesetzlichen Krankenversicherungen bereits Milliarden Euro an Steuern. Durch die Hintertür wird das System also bereits schon ein bisschen progressiver. Doch nötig wäre mehr.

Leistung muss sich wieder lohnen für Geringverdiener

Bis zum Grundfreibetrag von 9000 Euro im Jahr sollten gar keine Sozialabgaben anfallen. Dann sollte die Belastung wie bei Steuern langsam steigen, mit jedem Euro ein bisschen mehr. Um das zu finanzieren, müssten die Sätze für Besserverdiener und Reiche auf mehr als 20 Prozent steigen, oder die Steuerzuschüsse werden erhöht.

In einem modernen Wohlfahrtsstaat sind die Absicherung gegen Altersarmut und Krankheit essentiell für die Demokratie. Unterstützung für eine Reform könnte es in allen politischen Lagern geben. Leistung würde sich für Geringverdiener wieder lohnen, wenn sie entlastet würden. Die Arbeitgeber würden sich freuen, wenn mehr Frauen mehr arbeiten wollen würden. Und gerechter wäre es sowieso.

Zur SZ-Startseite
Es braucht endlich eine echte, große Umverteilung - zugunsten der Armen.

Soziale Gerechtigkeit
:Das Steuergeld hilft Bürgern, die nicht bedürftig sind

Die Politik der Bundesregierung hat mit Umverteilung wenig zu tun. Sie hilft der Mittelschicht, aber die Schere zwischen arm und reich klafft immer weiter auseinander. Manager, die Millionenboni kassieren, müssen endlich mitzahlen.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: