Theater:Politik im Leichensack

Theater: Der Plenarsaal als Tatort - was ist hier passiert? Vincent Doddema in "Das letzte Parlament (Ghost Story").

Der Plenarsaal als Tatort - was ist hier passiert? Vincent Doddema in "Das letzte Parlament (Ghost Story").

(Foto: Andreas Etter)

Björn Bicker, bekannt für seine dokumentarischen Stadtprojekte, hat sich das Stück" Das letzte Parlament (Ghost Story)" ausgedacht. Im Mainzer gerät die Uraufführung zu einer leicht schmalzigen Liebeserklärung an die Demokratie.

Von Anton Rainer

Der Herr im roten Pullover ist aufgebracht. Er schreit: "Macht mal richtig Krach hier." Und die Kinder machen Krach. Sie trillern und pfeifen, rattern und lärmen, sie singen "Supercalifragilistischexpialigetisch" und brüllen "Rettet die Zwergschule!". Es ist ohrenbetäubend. Dabei geht es bei dieser nachgestellten Demonstration vor dem Mainzer Landtag längst nicht mehr um die Rettung gefährdeter Dorfschulen. Die Kinder sind Überbleibsel eines ausgefochtenen Kampfs, Teil einer Inszenierung. Es geht um nichts, einerseits. Andererseits geht es in "Das letzte Parlament (Ghost Story)" um alles: den Tod der Demokratie, um deren Rettung und Zukunft. Und um einen Generationenkonflikt, ausgetragen in den Hallen eines Museums.

Diese Hallen sind eine dramaturgische Steilvorlage. Anders kann man die räumlichen Bedingungen, unter denen derzeit in Mainz Politik gemacht wird, gar nicht bezeichnen. Weil das Deutschhaus, in dem der rheinland-pfälzische Landtag normalerweise tagt, generalsaniert wird, zog das Parlament 2016 ins Landesmuseum um. Zwischen römischen Grabsteinen und Torbögen, Relikten einer vergangenen Republik, finden nun seit zwei Jahren Plenardebatten und Ausschusssitzungen statt. Man kann sich gut vorstellen, dass in der Fastnachtsstadt alle Pointen über die "Landtagsfossile" schon gerissen wurden. Nun aber hat das Theater die Räume gekapert. Und ihm ist nicht zum Scherzen zumute.

Björn Bicker, als Autor für seine dokumentarischen Stadtprojekte ("Illegal", "Urban Prayers") bekannt, nutzt die räumliche Zwischenlösung für eine dystopische Vision: In naher Zukunft gibt es keine Parlamente mehr. Die Welt schaffte sie einfach ab, sie wurden nicht mehr gebraucht. Nur in Mainz, wo das steinerne Museum einen natürlichen Bunker bildete, lebt die Erinnerung weiter. An die letzte Demokratie, mit ihrer "schwindenden Liebe zur schwindenden Wahrheit". Regisseurin Brit Bartkowiak hat den musealen Plenarsaal in Plastikfolie gehüllt, wie Leichensäcke liegen die milchigen Planen auf den Bänken der Abgeordneten. Der dort sitzende Zuschauer erkundet einen Tatort: Was ist hier passiert?

Bickers Text erzählt die demokratische Schwindsucht am Beispiel der Zwergschuldebatte. In seinen Recherchen hat er die echten Kämpfe verfolgt, mit Abgeordneten und Demonstranten gesprochen und den Konflikt um fiktive Elemente erweitert. Während Lehrer und Schüler also im Landtag um den Erhalt der ländlichen Minischulen streiten, fordern zwei braun gekleidete, ins Megafon schreiende Wutbürger deren sofortige Schließung - für die Rettung des Abendlandes. Eine Lehrerin habe nämlich gegenüber den Zwergschülern von "99 Namen Gottes" gesprochen, ein Code, den die "rüstigen Rentner" sofort als islamische Indoktrination verstehen. Was, wenn die Kinder jetzt Burka tragen, was dann? Dabei würde es den Wut-Opis schon reichen, endlich mal wieder zu einem "richtigen Grillabend" eingeladen zu werden: "Wir sind doch das Volk!"

Ein Bombengürtel Hoffnung. Darauf muss man erst einmal kommen

Und so bricht ein Sturm los, der Hass lässt die Wände des Landtags beben. Es taumelt die blinde Stenografin, die wie der Prophet Teiresias vor dem drohenden Untergang warnt. Und es taumeln die drei Abgeordneten mit ihren Insignien der Macht: der Merkelraute, dem TAZ-Abo. Nur der Herr mit der AfD-blauen Krawatte (Klaus Köhler) tanzt mitten im Shitstorm selbstverliebte Pirouetten. Und die Rentner packen derweil schon mal das Grillzeug aus: Menschenfleisch, frisch mariniert. Das wird man ja wohl noch essen dürfen! Es sind diese quälenden Eskalationsstufen, die langen Monologe (in denen Kristina Gorjanowa als Stenografin brilliert) und die fast beiläufig eingeworfenen Rätsel ("Was hat Demokratie mit dem Tod zu tun?"), die den nur 85 Minuten kurzen Theaterabend oft hellsichtig wirken lassen. All der Pathos, den der "Geist der Demokratie" genannte Ein-Personen-Chor (Monika Dortschy) und seine blinde Stellvertreterin hinausposaunen, man nimmt ihn billigend in Kauf. Schließlich geht es hier um die ganz großen Fragen, die Zukunft einer Gesellschaft. Björn Bicker rettet die Demokratie, wer will ihm da im Wege stehen?

Doch dann kommt, zum Finale, der Kinderchor. Die Zwergschüler singen Liebeslieder von Björk ("Love, you have to trust it"), tragen statt Burka Karnevalsmasken, binden unschuldig Luftballone und malen Kreideherzen an die Wand. "Wir organisieren den größten Marsch aller Zeiten. Einen Marsch zur Rettung der Liebe." Es ist alles so zuckersüß und klebrig, dass man nur mit dem Kopf nicken und Grönemeyer anstimmen möchte: "Die Welt gehööört in Kinderhände!" Es stimmt zwar: Vielleicht könnte ein Parlament von Debatten zur Liebe tatsächlich mehr profitieren als von weiteren Anträgen zur Straßenausbaubeitragssatzung. Andererseits: Ist es um eine Demokratie, die nur durch derart hartnäckiges Tränendrüsen-Drücken gerettet werden kann, wirklich schade?

Ja, glaubt der Autor, glaubt seine Protagonistin. Von den Kindern tief gerührt, sieht sich die blinde Stenografin im Traum als Selbstmordattentäterin. Sie trägt einen Bombengürtel, der die Ruinen des Geisterparlaments kaputtmachen soll, damit Neues entstehen kann. Und sie zitiert, was für eine alberne Volte, beim Auslösen des Zünders einen Überlebenden des Parkland-Schulmassakers in den USA: "Today is the beginning of spring and tomorrow is the beginning of democracy." Ein Bombengürtel Hoffnung. Darauf muss man erstmal kommen.

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