Alben der Woche:Die höhere Schule des sympathischen Schürzenjägertums

Paul McCartney ist kein "dirty old man", obwohl er jetzt hübsche Sex-Liedchen singt. Und Lenny Kravitz versucht noch immer mit ebenjenen die Welt zu retten.

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Spiritualized - "And Nothing Hurt" (Bella Union)

Spiritualized - And Nothing Hurt

Quelle: Bella Union

Jason Pierce ist ein Mann, über den gerne gesagt wird, dass er seit fast 30 Jahren im Grunde ein und denselben Song immer wieder schreibt. Man kann das für gemein halten. Oder für ein Kompliment - je nachdem, ob man wehmütigen Spacerock mag, den Pierce mit seiner Band Spiritualized gern üppig orchestriert und mal in Richtung Shoegaze, mal in Richtung Free Jazz kippen lässt. Sein achtes Album "And Nothing Hurt" (Bella Union) soll nun seine Abschiedsplatte sein und klingt trotz reduzierter Aufnahmebedingungen (weniger ausgiebige Studio-Sessions, mehr Stunden alleine am Laptop) doch ziemlich groß. Da ist etwa das Eröffnungsstück "A Perfect Miracle", das er mit einem galaktischen Pfeifen und Ukulelen-Gezupfe beginnen lässt wie eine romantische Weltraum-Ballade. Oder "I'm Your Man" mit den warmen Bläsern und dem Gitarren-Solo, zu denen er im Video als Astronaut durch ein Amerika der staubigen Straßen und einsamen Motels streift: eine versehrte Seele, die am liebsten hoch in die Unendlichkeit der Sterne blickt. Falls er diesen Song wirklich schon seit drei Dekaden spielt, dann ist "I'm Your Man" seine Ehrenrunde.

Annett Scheffel

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Honey Hahs - "Dear Someone, Happy Something" (Rough Trade)

Honey Hahs - Dear Someone, Happy Something

Quelle: Rough Trade

Ein guter Moment, um an die Zukunft der Popmusik zu denken. Zum Beispiel in Form von den Honey Hahs, drei englischen Teenager-Schwestern aus Südlondon (Rowan ist 16, Robin 13 und Sylvie 11 Jahre alt), deren Debütalbum "Dear Someone, Happy Something" beim Kult-Label Rough Trade erscheint und von Ex-Pulp-Bassist Steve Mackey produziert wurde. Eine Art Indie-Variante der Jackson Five also? Sorgen machen muss man sich, nach allem, was man so hört, wohl nicht. Auch die Musik klingt nach natürlicher Entwicklung: Keine Indie-Schmachter für Erwachsene, sondern freundliche Folklieder mit Harmoniegesang, Gitarren und kindlicher Perspektive. Entwaffnend und ehrlich - sogar, wenn es um Trump geht.

Annett Scheffel

3 / 5

Paul McCartney - "Egypt Station" (Capitol)

Paul McCartney - 'Egypt Station'

Quelle: dpa

Irgendwie süß, wie Paul McCartney auf "Egypt Station" (Capitol), seinem ersten neuen Album seit fünf Jahren, zugleich den total verliebten Gatten ("Happy with You"), den ewigen Zweifler ("I Don't Know") und die beleidigte Leberwurst ("Who Cares") gibt - um dann im Refrain von "Fuh You" zu angetäuschten Hip-Hop-Beats und einer leiernden Kirmesorgel-Melodie genau dieses "Youuuuuu" so herauszuheulen wie ein Wolf, der seit fünf Jahren keinen Sex mehr hatte. Ja genau, man soll sich hier eben nicht sicher sein, ob "Fuh You" als "For You" oder "Fuck You" zu hören ist. Beides, duh! McCartney hat dieses hübsche Sex-Liedchen mit Ryan Tedder von OneRepublic geschrieben und es selbst als "raunchy love song" bezeichnet. Und irgendwie bekommt das ja tatsächlich nur er, Sir Paul, hin, als Pop-Oldie mit 76 Jahren so etwas zu singen, ohne als dirty old man dazustehen. Die höhere Schule des unaufdringlichen, ganz sympathischen Schürzenjärgertums! Ansonsten sticht auf dem Album wohl das locker hinausgeschrammelte Triptychon "Hunt You Down/Naked/C-Link" am Ende am deutlichsten heraus - also wirklich drei Songs in einem, sechseinhalb Minuten mit zig Tempi- und Metren-Wechseln. Hier erinnert "Egypt Station" vielleicht am meisten an das legendäre Beatles-Album "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" von 1967, mit dem sich McCartney zuletzt dem Vernehmen nach noch einmal intensiv auseinandergesetzt hat. Was will man mehr? Songs für die Ewigkeit? Von denen hat McCartney doch so schon genug geschrieben. Und beurteilen lässt sich das doch sowieso immer erst mit ein wenig Abstand.

Jan Kedves

4 / 5

Chilly Gonzales - "Solo Piano III" (Gentle Threat)

-

Quelle: Label

Ein großer intellektueller Spaß ist die neue Platte des meisterhaften Exzentrikers Chilly Gonzales: Mit "Solo Piano III" (Gentle Threat) bringt er die Trilogie zu Ende, mit der er sich der Welt zuerst 2004 als großer Klaviervirtuose präsentierte. Die Platte ist die Zwischenbilanz eines Pianisten, der mit den Mitteln der Klassik immer zur Gegenwart hinstrebte. Jedes der 15 Stücke widmet Gonzales einer von ihm bewunderten Persönlichkeit: dem Anthroposophen Rudolf Steiner, der Flugpionierin Amelia Earhart, Hildegard von Bingen oder Ernö Rubik, dem Erfinder des Zauberwürfels. Als Zuhörer darf man munter raten, wie genau er deren Leistungen und Ideen in seinen hochbeweglichen, vieldeutigen Stücken verbaut hat - oder befürchten, dass "Gonzo" uns wieder mal an der Nase herumführt. Eine Freude ist beides.

Annett Scheffel

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Lenny Kravitz - "Raise Vibration" (BMG/Warner)

Lenny Kravitz - 'Raise Vibration'

Quelle: dpa

Ahh! Das kennt man doch! Dieses sanft ausklingende Pling der E-Gitarrensaite am Ende des ersten Songs. Was ist das nochmal gleich? Die Beatles? Marvin Gaye? Sly & the Family Stone? Flüchtige Erinnerungsflashbacks wie dieses überfallen einen so einige, wenn man sich "Raise Vibration" (BMG/Warner), das neue Album von Lenny Kravitz anhört. Und was soll man sagen? Es ist, wie zu erwarten, eine sehr nett groovende Funk'n'Soul-Retroparty geworden. "Get it all together, yeah! Uh! Alright!", singt Kravitz im ersten Song. Dann folgt eine Woaiggldiwiggdi-Gniedel-Gitarre. Nicht zu verwechseln mit einer Wakadiwaka-Funk-Gitarre, die an späterer Stelle noch prominent auftauchen wird. Es geht um Bomben, Krieg, Rassismus, große und wichtige Themen, ledrig-sexy runtergerockt von Kravitz mit ganz viel Weltbürgergewissen. "We must all unite", "We must all join the fight", "Together we are strong" und ganz viel huggin' und lovin'. Das ist alles richtig und wichtig. Sex für eine bessere Welt. Aber, Moment, hatten wir das nicht auch schon einmal?

Julian Dörr

© SZ.de/doer
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