Nudging:"Wir sollten nicht in Techniken investieren, um Menschen von außen zu steuern"

Nudging: Gesundheitsminister Jens Spahn möchte, dass mehr Menschen einen Organspendeausweis haben. Er plädiert für die Widerspruchslösung.

Gesundheitsminister Jens Spahn möchte, dass mehr Menschen einen Organspendeausweis haben. Er plädiert für die Widerspruchslösung.

(Foto: Jessy Asmus)

Spahns Vorstoß zur neuen Organspende-Regelung ist ein Beispiel für "Nudging", das Schubsen des Bürgers in die gewünschte Richtung. Psychologe Gerd Gigerenzer spricht über die Tücken dieses Ansatzes.

Interview von Berit Uhlmann

Gerade wird in Deutschland diskutiert, die Entscheidung zur Organspende von den Füßen auf den Kopf zu stellen. Wer nicht widerspricht, wird automatisch zum Spender. Solche Änderungen der Entscheidungsgrundlage werden auch als "Nudging" bezeichnet. Der Ausdruck kommt vom englischen "nudge", auf Deutsch etwa Schubs oder Anstupser. Grundprinzip des derzeit recht populären Ansatzes ist es, durch gezielte Gestaltung der Umgebung Entscheidungen zu beeinflussen, ohne dabei Vorschriften zu machen. Andere Beispiele sind, gesunde Lebensmittel besonders leicht zugänglich zu machen oder die erwünschte Option auf dem Computer voreinzustellen. Allerdings sind sowohl die Definition als auch die Anwendung von Nudging umstritten. Warum, erläutert der Psychologe Gerd Gigerenzer. Er ist Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und leitet dort das Harding Zentrum für Risikokompetenz.

SZ: Wie definieren Sie Nudging?

Gerd Gigerenzer: Die ursprüngliche Definition von Nudging geht davon aus, dass Menschen mit Risiken nicht richtig umgehen können und es auch kaum lernen werden. Oder dass wir zu faul sind. Deswegen müsse der Staat eingreifen, um uns vor uns selbst zu schützen. Und zwar nicht mit hartem Paternalismus, sondern mit weichem "Schubsen". Dahinter steckt ein pessimistisches Menschenbild, nach dem Menschen eher hilflos sind und der Staat sie lenken muss, etwa so wie man eine Herde von Schafen lenkt.

Bezogen auf das Thema Organspende bedeutet das: Der Staat ändert mit der Widerspruchslösung die Voreinstellung, damit der Mensch sich mit dem Thema auseinandersetzen muss. Was spricht dagegen, dass man den Menschen aus seiner Bequemlichkeit holt?

Eine im Fachjournal Science veröffentlichte Untersuchung, an der auch einer meiner Doktoranden beteiligt war, hat gezeigt, dass Voreinstellungen wirksam sind. Aber nicht, weil Menschen zu bequem und träge sind, sie zu ändern, sondern weil sie diese als Empfehlung wahrnehmen. Sie denken: Wahrscheinlich hat sich die Regierung etwas dabei gedacht, wenn sie dies als die erste Option anbietet.

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Die Regierung denkt sich ja auch etwas dabei. Sie möchte die sehr niedrigen Organspende-Zahlen erhöhen. Was ist daran falsch?

An einer Widerspruchslösung ist prinzipiell nichts falsch - diese gibt es auch in Italien, Frankreich und vielen europäischen Ländern. Die Frage ist, aus welchem Grund der Staat diese Lösung einführen will. Wenn Sie das Buch "Nudge" von Richard Thaler und Cass Sunstein aufschlagen, werden Sie lesen, dass eine Voreinstellung bei Organspenden notwendig sei, um die angebliche Trägheit der Bürger zu überwinden. Das wäre in der Tat ein Nudge. Nur hat die Science-Studie eben das Gegenteil gezeigt, nämlich dass Menschen eine Voreinstellung als Empfehlung wahrnehmen, und aus diesem Grund ihr Verhalten ändern. Das ist ein wichtiger Unterschied. Es geht hier um eine völlig andere Motivation und ein respektvolleres Bild vom Bürger.

Was wäre denn Ihrer Meinung nach hilfreich, um die Organspende-Zahlen zu erhöhen?

Im Falle der Organspende ist eine große Portion Aufklärung nötig, weil viele Menschen immer noch nicht wissen, was genau ein Hirntod ist und was genau bei der Spende passiert. Zum Beispiel, dass Angehörige nicht bis zum letzten Atemzug beim Verstorbenen sein können. Diese Aufklärung ist für manche schockierend, aber sie muss offen und ehrlich sein. Denn aufgrund der Vorfälle in verschiedenen Krankenhäusern sind große Teile der Bevölkerung inzwischen misstrauisch geworden. Die Kliniken müssen darüber nachdenken, wie sie das Vertrauen der Menschen wiedergewinnen wollen.

Sie plädieren stark für Aufklärung. In vielen Bereichen aber hat sich gezeigt, dass Aufklärung allein wenig wirkungsvoll ist. Wir wissen schließlich alle, dass wir uns gesund ernähren und mehr bewegen sollten ...

Viele von uns ernähren sich auch gesund und machen Sport. Aber es stimmt, Aufklärung alleine hilft nicht immer. Es geht auch darum, die Bürger kompetent zu machen. Das heißt, ihnen zu helfen, ihr Verhalten selbst zu ändern. Und ich bin nicht der Meinung, dass wir in Deutschland besonders kompetent sind im Umgang mit Gesundheits- und anderen Risiken. Wenn man diese Kompetenz schon in der Schule mit spielerischen Mitteln vermitteln würde, hätten wir eine andere Gesellschaft.

Auf der anderen Seite setzt die Industrie uns permanent Nudging aus. An der Supermarkt-Kasse werden besonders ungesunde Lebensmittel in Griffweite präsentiert. Man könnte argumentieren, dass der Staat mit einer gewissen Manipulation gegenhalten muss.

Nein. Die Industrie wird immer mehr Geld für Werbung und Manipulation haben. Die Gefahr ist, dass der Staat wirksamere Mittel unterlässt. Dass er zum Beispiel Werbung für gesundheitsschädliche Produkte für Kinder nicht untersagt, sondern stattdessen ein Nudging-Team einsetzt, um in einer Cafeteria Äpfel auszulegen. Nudging wird dann zur Ausrede, um unangenehme Maßnahmen gegen den Verkauf von ungesunden Produkten nicht zu ergreifen. Außerdem gibt es kaum Studien, die beweisen, dass es etwa hilfreich ist, Äpfel nach vorne und Süßigkeiten weiter hinten im Regal zu verstecken. Die Kinder finden, was sie möchten. Wir brauchen nachhaltigere Lösungen. Dazu sollten wir mehr in die Kompetenz von Menschen investieren als in Techniken, um Menschen von außen zu steuern.

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