Häftlinge:Das neue Leben außerhalb der Gefängnismauern

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Nicole Lehnert leitet die Beratungsstelle, in der sich 22 Mitarbeiter um etwa 2500 Klienten im Jahr kümmern. (Foto: Stephan Rumpf)

Wenn Häftlinge entlassen werden, fehlt ihnen oft Stabilität. Mitarbeiter der Münchner Straffälligenhilfe unterstützen sie, wieder einen Platz im Leben zu finden.

Von Stephan Handel

Das Tor geht auf, das Tor geht zu, und da steht er nun, das Gefängnis hinter sich - aber was vor sich? Er könnte hinübergehen in die Boazn, da bekommt jeder, der einen Entlassungsschein der JVA Stadelheim vorzeigen kann, fatalerweise eine Halbe Freibier. Er könnte aber auch in die Stadt fahren und damit beginnen, sein Leben zu sortieren. Dazu bräuchte er einen Fahrschein - hat er nicht. Geld - hat er nicht. Ein Konto - hat er nicht. Vielleicht doch die Boazn und das Freibier?

Wenn der Strafentlassene es schafft, der Versuchung zu widerstehen, wenn er das Transport-Problem löst, dann wäre es am besten, sein Weg führte ihn nach Schwabing, direkt hinein ins Vergnügen, oder besser doch vorbei an Vereinsheim, Lustspielhaus, Lach- und Schieß - mitten im Zentrum der Spaßgesellschaft logiert in einem gelben Eckhaus in der Haimhauserstraße eine Anlaufstelle für Menschen, denen das Leben gerade überhaupt keinen Spaß macht: Seit 25 Jahren unterstützt die "Münchner Zentralstelle für Straffälligenhilfe" (MZS) Haftentlassene dabei, wieder einen Platz in der Welt zu finden.

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Denn die wenigstens Straftäter kehren ja nach Verbüßung ihrer Strafe zurück ins Haus am Tegernsee zu Frau und Hund - bei den allermeisten ist die Haft der Endpunkt eines großen Berges an Losigkeiten: Beziehungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Ausweglosigkeit. Dafür haben sie oft zu viel von dem, was ein bürgerliches, ein anständiges Leben gerade verhindert - zu viel Alkohol, zu viel Drogen, zu viel Gewalt, zu viele Schulden, zu viele psychische Probleme.

"In den meisten Fällen versuchen wir erst mal, Stabilität reinzubringen", sagt Nicole Lehnert, die Leiterin der MZS. 22 Berater kümmern sich im Jahr um etwa 2500 Klienten, wie die Kundschaft hier genannt wird. Dabei steht in der Münchner Zentralstelle für Straffälligenhilfe sozusagen ein "All-in-One"-Angebot bereit: Suchtberatung, Schuldenberatung, Beziehungsberatung, Hilfe bei Wohnungs- und Arbeitssuche. Neu ist seit dieser Woche das Projekt "Geldverwaltung statt Ersatzfreiheitsstrafe": Eine Ersatzfreiheitsstrafe wird fällig, wenn ein Delinquent eine Geldstrafe nicht bezahlen kann, zum Beispiel wegen Schwarzfahrens - dann muss er die Strafe sozusagen absitzen. Das neue Projekt soll durch Unterstützung bei der Einteilung des vorhandenen Geldes die Inhaftierung verhindern.

Die MZS wurde vor 25 Jahren durch den Zusammenschluss mehrerer Einzelinitiativen mit dem gleichen Zweck gegründet - und aus der Einsicht heraus, dass die Bündelung des Vorhandenen sinnvoller ist als einzelne Wurschtelei. Getragen und finanziert wird sie heute durch den bayerischen Landesverband für Gefangenenfürsorge und Bewährungshilfe, das Münchner Jobcenter, den Katholischen Männerfürsorgeverein, das Sozialreferat der Stadt - und die JVA Stadelheim, die offensichtlich auch kein Interesse daran hat, die gleichen

Pappenheimer immer und immer wieder einsperren zu müssen. Nicole Lehnert, die Leiterin, sagt aber auch, dass die Finanzierung des Etats von rund 1,5 Millionen Euro in jedem Jahr wieder einen Kraftakt bedeutet.

Zuständig ist die MZS für Häftlinge in den JVAs Stadelheim, Landsberg am Lech und Bernau und grundsätzlich für Strafentlassene, die nach der Haft in München leben - das hat den einfachen Grund, dass den Menschen ja hier geholfen werden soll; in anderen Städten gibt es ähnliche Einrichtungen. Die Intensität der Betreuung ist je nach Klient recht unterschiedlich und reicht von einem einzigen Gesprächstermin bis zu jahrelanger Begleitung. Die Erfolgskontrolle ist schwierig, weil das Angebot ja auf Freiwilligkeit beruht - wenn ein Klient einfach nicht mehr kommt, wissen die Mitarbeiter meistens nicht, ob für ihn nun alles in Ordnung ist und er keine Hilfe mehr braucht, ob er vielleicht wieder abgestürzt ist in seine persönliche Hölle oder ob er sogar schon wieder in Haft sitzt.

Einen wichtigen Aspekt ihrer Arbeit sehen die MZS-Mitarbeiter im so genannten Übergangsmanagement: Schon in der JVA soll soweit möglich geplant werden, wie es nach der Entlassung weitergeht. Die Haftinsassen werden bereits beim Zugangsgespräch ganz zu Beginn der Haft auf die MZS hingewiesen, die Stelle unterhält in Stadelheim zudem zwei Büros, in die die Insassen ohne große Umstände kommen können - und die Mitarbeiter haben sogar eigene Schlüssel für die Stationen, so dass sie alte und neue Klienten problemlos aufsuchen können. Wenn sie das tun, tragen sie vorsichtshalber eine PNA, Personen-Notsignal-Anlage, die melden würde, wenn sie angegriffen würden. Das aber, sagt Nicole Lehnert, kommt nicht vor: "Die Leute sind uns gegenüber nicht aggressiv. Wir sind nicht der Feind."

Selbstverständlich und wohl auch zu Recht würde der Vollzugsdienst in Stadelheim vehement bestreiten, sich als Feind der Häftlinge zu sehen - dennoch ist es für die Insassen ein Unterschied, mit jemandem von außerhalb reden zu können, der nicht den Regeln der Anstaltsdisziplin unterliegt und einfach nur da ist, um zu helfen. Der den Brief der Staatsanwaltschaft liest und erklärt. Der vermittelt, wenn es um die Zellenbelegung geht. Der weiß, wie ein Freigang zu beantragen ist, und, wenn er denn genehmigt ist, die Begleitung übernimmt. Es kommt dann gelegentlich schon vor, dass ein Klient die professionelle Hilfe mit persönlicher Freundschaft verwechselt - da haben die Mitarbeiter gelernt, sich abzugrenzen, genau so wie in jenen Fällen, in denen der Klient einen Wäschekorb ungeöffneter Briefe auf den Schreibtisch knallt - "So, jetzt macht mal". Nicole Lehnert: "Dem sagen wir dann: Kommen Sie wieder, wenn Sie alle Briefe gelesen haben."

"Wir sind nicht die Kumpels", sagt Lehnert dann noch, aber natürlich ist die Arbeit von einer Grundannahme getragen: Wenn jemand straffällig geworden ist, dann ist er "nicht nur ein schlechter Mensch". Sie arbeiten in der MZS nach dem Pygmalion-Prinzip: Wenn jemand nur oft genug das Gefühl vermittelt bekommt, dass er etwas wert ist, dass er Fähigkeiten hat, dass er Dinge schaffen kann, dann wird er irgendwann auch selbst an sich glauben. Und vor dem Gefängnistor den Weg nach Schwabing wählen anstatt den in die Boazn zum Freibier.

© SZ vom 13.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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