Gegenwartsliteratur:"Braun und weiß, so ist es richtig"

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Um Migranten geht es in der deutschen Literatur in diesem Herbst. Aber nur am Rande. Die Deutschen sind sich selbst fremd.

Von Marie Schmidt

Es passiert manchmal in Kleinfamilien. Man lebt so nebeneinander her, alles normal. Dann kommt Besuch. Und man fängt an, sich zu fragen, warum Mama immer so laut atmet, wieso der Kleine den albernen Sprachfehler nicht wegkriegt, und Papa steht das Hemd über den Brusthaaren offen, der hält sich wohl für jung. Nur weil einer mit am Tisch sitzt, der anders guckt, sehen plötzlich alle merkwürdig aus.

Etwas Ähnliches geht gerade in der deutschen Gegenwartsliteratur vor sich. In so manchem Roman dieses Herbstes kommen nämlich Flüchtlinge ins Land, vielleicht sogar mehr, als in Wirklichkeit noch kommen. Allerdings treten sie in diesen Geschichten eher gegen Ende oder nebenbei auf. Um sie geht es nicht, vielmehr um die Frage, wohin oder zu wem die Migranten in diesem Deutschland kommen werden. Die Antwort sind Bilder deutscher Zustände, von denen uns die Landsleute ganz schön befremdlich entgegenblicken.

Zum Beispiel in Timur Vermes' Satire "Die Hungrigen und die Satten", die jetzt auf den Bestsellerlisten steht - erwartungsgemäß, denn "Er ist wieder da", der erste Roman des Autors, war bereits ein Riesenerfolg. Darin kam der Besuch, der unserer Gesellschaft den Spiegel vorhielt, in Gestalt eines wiedererweckten Adolf Hitler. Diesmal ist es eine Kolonne von 150 000 Menschen, die sich in einer fiktiven Zukunft aus einem Flüchtlingslager südlich der Sahara zu Fuß Europa nähert.

Das Hauptinteresse des Romans besteht darin auszumalen, wie die Deutschen auf so etwas reagieren würden: Die Bevölkerung, die besorgte, die Manager des Privatsenders, der das Ganze live bringt und Werbeeinnahmen scheffelt, Politiker, die sich profilieren müssen. Vermes füllt viele Kapitel mit deutschen Meetings. Und weil es sich hier um einen satirischen Roman handelt, sind Dialoge und Figuren überscharf gezeichnet.

Offensichtlich ist es die Absicht des Autors, aus Wiedererkennbarem das Szenario einer möglichen Realität zu karikieren. Zu diesem Zweck hat er die Zeitgenossen zur Kenntlichkeit entstellt. Sein Buch enthält viel Nick-Material, jaja, so sinnse, soll man denken: der Staatssekretär ein schwuler Emporkömmling, der Ruhm des rasend dämlichen Fernsehsternchens auf einer "Vergewaltigungsangelegenheit" gebaut, "Geht nicht gibt's nicht" sagen diese Pappkameraden und "geht ja gar nicht".

Besonders heftig nickten über diesen Roman übrigens zuletzt Autoren zweier rechter Blogs. Die Detailversessenheit kommt ihnen offenbar entgegen, mit der Vermes die Infrastruktur des riesigen Flüchtlingstrecks ausmalt, Wassertanks, rollende Geburtsstationen, Schmiergelder, die ihn über den afrikanischen Kontinent bringen. Darin erkennen die Rechten ihre eigene verzerrte Wirklichkeitsbeschreibung der zäh sich nach Deutschland durchkämpfenden Horden wieder.

Vermes hat dem Applaus von dieser Seite nicht genügend vorgebeugt, wirklich gewollt kann er ihn nicht haben. Sein absolut professionell auf Popularität hin geschriebener Roman kulminiert in einem brutalen Sinnbild, mit dem er seinen Lesern einzuschärfen versucht, dass es keine humane Art gibt, ein Land gegen Migration abzugrenzen. Die "selbsternannten Hilfspolizisten", die schließlich an einem Grenzzaun stehen und schreien "Verpisst euch! Das ist unser Land!" gehören zum fratzenhaft verzeichneten Figurenpersonal des Romans, wie andere auch.

Wie es zu dieser aggressiven "Das ist unser Land"-Mentalität kommt, die zuletzt ohne jeden Satire-Hintergrund auf den Straßen von Chemnitz und Köthen zu betrachten war, versucht das Debüt des 1994 geborenen Lukas Rietzschel zu erforschen. Er erzählt in "Mit der Faust in die Welt schlagen" von der Kindheit und Jugend zweier Brüder in der sächsischen Provinz, die endet, als Flüchtlinge in einer leer stehenden Grundschule untergebracht werden sollen. Das spielt in der Gegend zwischen Hoyerswerda, Kamenz und Bautzen - der Osten ist eben immer noch das fremdeste Deutschland, könnte man meinen. Aber nicht für diesen Autor, der selbst aus der Gegend kommt. Aus knappen Sätzen, die vielleicht Wortkargheit darstellen sollen, strickt Rietzschel seine engmaschige Beschreibungsprosa. Als könne man, wenn man nur kleinschrittig genug vorgeht, eine plausible Verbindung herstellen zwischen einem Jungen, der Buntstifte aus seiner Schultüte pfriemelt, und dem Moment fünfzehn Jahre später, in dem er sagt: "Wöchentlich landeten neue Untermenschen am Strand von Sizilien." Kommt man so dahinter, warum einer Nazi wird?

Rietzschel findet in seinem Roman dann doch eher die üblichen, soziologischen Gründe: die durch die Wiedervereinigung zerrissenen ostdeutschen Biografien der Eltern, "Abschluss aberkannt, Umschulung, Umschulung, Weiterbildung". Nachbarn beäugen sich misstrauisch, weil die einen es besser gepackt haben als die anderen, und keiner einsieht, warum. Als Sündenböcke halten welche her, die zu noch Fremderen gemacht werden, die sorbische Minderheit, Homosexuelle, dann Ausländer. Öffentliche Verkehrsmittel gibt es kaum, Bildung wenig, Städte schrumpfen. Aber sind das hinreichende Gründe für die Verrohung der Jungs, die Rietzschel da aufwachsen sieht? Trotz aller Empathie, zu der er sich seinen Figuren gegenüber zwingt, taucht die Gewalt doch unvermittelt in ihren Kinderspielen auf.

Vielleicht ist es so, dass zu große Nähe zum Beschriebenen selbst befremdlich ist: Das Verständliche zerfällt einem vor Augen, wenn man direkt davorsteht. Und es bleibt das factum brutum: Gewalt gibt es. In Rietzschels Roman haben sich am Ende jedenfalls sogar die Nächsten nichts mehr zu sagen, sind sich wahnsinnig fremd, fremd im eigenen Land, ohne dass es dazu eines einzigen Fremden bedürfte.

Ein weiterer Roman erscheint jetzt, der eine ähnliche Beobachtung weniger hilflos betroffen vorbringt, sondern literarisch souverän, in einem sehr eigenen, intensiven Ton. Dabei gibt es in "Nenn mich November" der 1962 in Köthen geborenen Schriftstellerin Kathrin Gerlof viele motivische Ähnlichkeiten zu Rietzschels Roman: ein sterbender Ort in Ostdeutschland, die Straßenbeleuchtung funktioniert nicht, Mais-Monokultur, wohin das Auge reicht, Geflüster, wer früher für die Stasi gespitzelt hat, unterbrochene Lebensläufe. Gerlofs Hauptfigur ist eine Frau mittleren Alters mit dem sehr deutschen Namen Marthe Lindenblatt. Nach zwei ungelenken Existenzgründungsversuchen gehen ihr Mann und sie bankrott und ziehen aus Berlin in ein geerbtes Haus in der Provinz. In Marthes Kopf herrscht ewig Apokalypse, das kommt von den Online-Nachrichten über Klimawandel, Migration, Konsumverblödung. In den ersten Kapiteln liegt wie eine Prothese ein Arm neben ihr, es ist aber ihr eigener, der ihr wie ein Anhängsel vorkommt: ein psychosomatisches Symptom und eines der vielen Sinnbilder des Sich-selbst-Fremdseins, die Gerlof in diesem Roman findet. Sie kennt geschichtliche, ökonomische und psychologische Gründe für diesen deutschen Zustand und gewinnt ihnen etwas ab für Marthes Geschichte.

Diese Frau kommt nun also als Städterin in ein Kaff, von dem es auf der ersten Seite heißt: "Im Dorf gibt es kein Begehren mehr." Gerlof reißt ihre Szenerie zuerst archetypisch auf: das Haus, der Mann, der Hund, der Bürgermeister, der Schulz und der Krüger (die Kapitalisten am Ort). Aber dann windet sich ihre Erzählstimme so genial um die Bilder und Figuren herum, dass sie sich öffnen. Gerlof zerschießt ihre Sätze mit Punkten zu kurzatmigen Fragmenten und wechselt zwischen den Halbsätzen die Perspektive, sodass man Leute und Häuser und Verhältnisse von innen und außen gleichzeitig zu sehen meint.

Mit dieser Technik bringt es Gerlof zu einer kunstvollen Pointe: Ausgerechnet im sterbenden Dorf, das von archaischer Macht und Argwohn beherrscht wird, finden Marthes Ängste einen Grund - und lassen nach, während das Dorf in Bewegung gerät, die Bewohner sich mit den Augen der Neuen selbst anders sehen und auf Ideen kommen. Als einer der örtlichen Geschäftsleute, weil er dafür Subventionen erhält, alte Zwangsarbeiterbaracken zur Flüchtlingsunterkunft ausbaut, tun sich die Dorfbewohner zum ersten Mal zusammen. Wie sich da dann deutsche Menschen mit ihren alten Ressentiments und neuen Ängsten gegenübersitzen und mit Kurzen warmtrinken ("Braun und weiß, so ist es richtig"), während alles wartet, ob da wirklich noch Fremdere kommen mögen - das wird ein literarisches Bild des Herbstes 2018 sein, das bleibt.

© SZ vom 15.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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