Stadtentwicklung:Mit der Schönheit kommt die Angst

Der Abwasser Fluss Emscher in seinem kanalisierten Bett in Gelsenkrichen Bismarck Blick auf die Ru

So wie hier in Gelsenkirchen sah die Emscher früher überall aus: Sie floss im engen Betonkorsett vorbei an Fabriken. Heute entstehen ringsum grüne Auen – eine eigen- und einzigartige Mischung.

(Foto: imago/Jochen Tack)
  • Die Emscher zieht sich mitten durchs Ruhrgebiet. Früher war es eine Kloake, heute ist es wieder ein Fluss.
  • Bei einigen Emscher-Anwohnern wirft das Fragen auf. Ihre Malocherviertel werden für viele attraktiv. Vielleicht zu attraktiv.

Von Janis Beenen, Düsseldorf

Der Bote des Wandels im Leben Tausender Menschen ist ein Biber. Er dümpelt durchs Wasser. Dieser Auftritt kommt einer Sensation gleich. Uli Paetzel steht auf einer Brücke und deutet gestenreich auf das Tier. Jahrzehnte hat sich kaum ein Lebewesen in die Emscher verirrt, diesen Abwasserkanal des Ruhrgebiets. Paetzel, Bauarbeiterjacke und Anzughose, ändert das - sichtlich mit Erfolg.

Er ist als Chef der Emschergenossenschaft zuständig für die Renaturierung der einstigen Kloake. Lange waberten Fäkalien auf 85 Kilometern von Holzwickede bei Dortmund vorbei an 19 Städten bis zur Rhein-Mündung in Dinslaken. Mal färbte der Dreck der Industrie sie, mal das Blut von Schlachtereien. Für die Anwohner blieb sie die "schwatte Emscher".

Die "blaue Emscher" steht für das neue Ruhrgebiet, für einen Fluss, in dem Biber und Fische schwimmen, für grüne Auen, so wie es sie vor der Ära von Kohle und Stahl gab. Die Region kehrt zu ihrem Ursprung zurück und erreicht die Moderne.

"Woanders is auch scheiße"

Bei einigen Emscher-Anwohnern wirft das Fragen auf. Manche haben Angst. Ihre Malocherviertel verändern sich. Über Generationen blieben viele hier, weil es zu mehr als der Siedlung am "Köttelbecke" nicht reichte. Oder weil die Nachbarn so nett waren. Oder einfach, weil man halt blieb. "Woanders is auch scheiße", sagen sie im Revier. Die Leute arrangierten sich mit dem Muff ihres Kanals. Nun wird alles schön. Eigentlich ist das ein Grund zur Freude. Aber was, wenn es zu schön wird? Kommen dann bald die Reichen? Für manche im Ruhrgebiet ist das eine schlimme Vorstellung.

Am Montag wird Paetzel mit NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) für weitere 35 Kilometer einen unterirdischen Abwasserkanal in Betrieb nehmen. Dann wird alles noch, nun ja, idyllischer. "Das ist ein Meilenstein in diesem Generationenprojekt", sagt Paetzel. 2020 soll alles fertig sein. Etwa 30 Jahre nachdem der Plan gefasst wurde, werden Deutschlands dreckigster Fluss und seine vielen Nebenläufe sauber. Eines der größten Infrastrukturprojekte des Landes endet dann. 5,5 Milliarden Euro wird es gekostet haben. Mehr als zwei Millionen Menschen und etliche Betriebe haben eine neue Kanalisation. Die Dimensionen sind vergleichbar mit dem Flughafen BER oder Stuttgart 21 - nur reibungsloser läuft es.

Die Europäische Investitionsbank verhalf mit üppigen Krediten zum Erfolg. Schließlich schafft die Renaturierung Arbeitsplätze und Lebensqualität - ganz im Sinne der EU-Bank. Wer könnte etwas dagegen haben, wenn aus "Wohnen an der Kloake" "Wohnen am Wasser" wird? Das Ansehen der Region steigt. Die Macher im Westen können anderswo in der EU mit ihrer Erfahrung helfen. Experten aus Frankreich nahmen den Umbau zum Vorbild, und sogar Fachleute aus den USA und China kamen vorbei, um etwas zu lernen.

Klaus Vatter ist grundsätzlich Befürworter des Umbaus. Doch bei aller Euphorie denkt er auch über die unerwünschten Folgen nach. Der 58-Jährige steht mit Sakko an der Emscher. Der Wind zerzaust die weißen Haare. Mit seinem Verein "Emscherfreunde" begleitet er die Renaturierung. In Gesprächsrunden hört er, wie die Anwohner denken. Klar freuen sich alle, wenn kein Toilettenpapier mehr nahe den Wohnviertel treibt. "Der Gestank verschwindet, aber der Geruch der Gentrifizierung liegt auch schon in der Luft", sagt Vatter. Die Gefahr, dass die Viertel immer teurer werden, wird zum Thema.

Noch stinkt die Emscher bei Vatter in Bottrop, knapp 40 Kilometer westlich von Dortmund. Stacheldraht versperrt den Weg zum Wasser. Das Ruhrgebiet sieht hier noch so aus wie das Klischee. Scheinbar chaotisch knubbeln sich die Verkehrswege. Über den Fluss zieht sich die Eisenbahnbrücke, quer darüber donnert der Verkehr über die A 42. Über allem thront der Gasometer. Nun, da Natur hinzukommt, entsteht eine einzigartige Mischung, die vieles verändert.

Die Touristen kommen schon. Ständig gibt es neue Rekorde, mehr als acht Millionen Übernachtungen in der Metropole Ruhr 2017. Auch aus Österreich, Großbritannien und anderen Staaten reisen viele an. Das begrünte Freilichtmuseum zieht die Menschen an - das hilft der Gegend.

An der alten Zechensiedlung Bottrop-Ebel kommen mehr und mehr Radler und Spaziergänger vorbei. Die Backsteinhäuser liegen wenige Schritte von der Emscher entfernt. Noch scheint es wie früher zu sein. Eine Hausfrau steht im Kittel vor der Trinkhalle. Am Gartenzaun klönen die Männer mit der Kippe in der Hand. Sie ahnen, dass der Umbau mehr als ein paar Besucher bringen könnte. Dieses schreckliche Abwarten. "Nich, datt dat hier wie am Phoenix-See wird", hofft einer.

Das alte Ruhrgebiet weicht

Der Phoenix-See in Dortmund gilt als Beispiel des Strukturwandels und entstand infolge des Emscherumbaus. Das alte Stahlwerk wurde abgebaut, das Areal mit Wasser befüllt. Die renaturierte Emscher fließt vorbei, der See fungiert als Rückhaltebecken bei Hochwasser. Am Ufer reihen sich Villen, weiße Kästen mit Panoramafenstern. Spieler von Borussia Dortmund residieren hier. Innerhalb weniger Jahre ist am Phoenix-See eine der teuersten Gegenden im Ruhrgebiet entstanden. Sogar Wein wird am Hang angebaut. Klaus Vatter spricht von einer "gewollten Monaco-Yachtklub-Atmosphäre". Das prägt auch den angrenzenden Stadtteil Hörde, den man einst wohl Arbeiterviertel genannt hätte. Wer jetzt herkommt, will in die hippen Lokale an der Promenade und nur selten in die Pils-Kneipen gehen, die es vereinzelt noch gibt.

Emscher-Begrüner Paetzel weiß, wie die Leute im Ruhrgebiet ticken. Irgendwie ist er ja einer von ihnen. Paetzel, Jahrgang 1971, ist in Gelsenkirchen geboren. Als Junge sprang er über Nebenarme des Flusses. Nur nicht reinfallen, das Wasser, orangesilbrig schimmernd, war genauso voll Dreck und Gift wie der Hauptkanal.

Heute will er beruhigen. Das Neubaugebiet am Phoenix-See sei ein besonderer Fall. "Wir beobachten nicht, dass Miet- und Kaufpreise an der Emscher steigen", sagt er. Den Umbau nennt er einen "Beitrag zur Quartiersentwicklung", der jetzigen Eigentümern den Wert ihrer Grundstücke sichere.

Aber bleibt es dabei? Noch befinden sich viele Abschnitte im Bau. Was, wenn sie fertig sind?

Paetzel hat ein entscheidendes Argument auf seiner Seite. Viele in der Region vertrauen seiner Emschergenossenschaft. Von Städten, der Wirtschaft und Bergbauunternehmen wird der Wasserwirtschaftsverband getragen und finanziert. Die Daseinsvorsorge für alle Bürger ist der gesetzliche Auftrag. Das hat sich bewährt. Schon 1899 wurde die Genossenschaft dafür gegründet. Die Emscher mäanderte damals noch durch die Natur. Abwasser war schon drin, Überschwemmungen brachten Seuchen in die Städte.

Mit einem ersten großen Umbau zwängte die Genossenschaft den Fluss in ein Betonkorsett. Eine unterirdische Kanalisation war nicht möglich. Zu viele Löcher riss der Bergbau in den Keller des Reviers, ließ die Erde viele Meter absacken. Seit dem Ende der Kohle macht die Genossenschaft wieder alles neu. "Dass alles problemlos läuft, liegt auch daran, dass wir die Bürger mit einbeziehen", sagt Paetzel.

Vatter sorgt sich, ob die Harmonie bleiben wird. "Wir müssen jetzt schon offen darüber sprechen, wie sich das Wohnen an der Emscher verändern wird", sagt er.

Eine Umkehr ist nicht mehr möglich, das wissen die Menschen. 2018 wird das Jahr sein, in dem das Ruhrgebiet sich von seiner Geschichte emanzipiert haben wird. Die Emscher wird ein normaler Fluss. Ins Bottroper Bergwerk Prosper-Haniel fahren die Kumpel zur letzten Schicht ein. Dann ist Schluss mit der Steinkohle aus dem Pott. Die "Traditionskonzerne" bauen, wie gehabt, Stellen ab. Ständig ändert sich etwas hier an der Emscher - und doch bleibt irgendwie alles gleich.

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