Russland:Wenn Wähler wütend werden

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Lange konnte der Kreml Wahlen fast nach Belieben manipulieren. Doch jetzt musste er auf einmal mehrere Niederlagen hinnehmen. Die Stimmung im Lande Putins kippt.

Von Julian Hans

Ein stürmischer Herbst hat in Russland begonnen: Bei vier Wahlen innerhalb von drei Wochen sind die vom Kreml favorisierten Kandidaten spektakulär gescheitert. In den Regionen Chabarowsk und Wladimir wurden am Wochenende die amtierenden Gouverneure von ihren Posten verdrängt. Eine Woche zuvor hatte die zentrale Wahlkommission die Stichwahl im Gebiet um Wladiwostok kurzfristig annulliert, als sich abzeichnete, dass selbst grobe Manipulationen dem Oberhaupt der Region nicht das Amt retten können. Im sibirischen Chakassien zog der amtierende Gouverneur seine Kandidatur schon vor der Wahl zurück.

Jede Niederlage hat ihre Besonderheiten, aber alle zusammen sind ein Alarmzeichen für Moskau: Die Unzufriedenheit wächst und lässt sich mit Manipulationen nicht mehr so einfach in den Griff bekommen wie bisher. Wladimir Putin, dem manche zutrauen, selbst den Ausgang der Wahlen in den USA steuern zu können, wurde vom Ausgang der Wahlen im eigenen Land nach Aussagen seines Sprechers "überrascht". Sein System, das er selbst als "gelenkte Demokratie" beschrieben hat, droht außer Kontrolle zu geraten.

Über viele Jahre ist dieses System verfeinert worden. Die innenpolitische Mannschaft in der Präsidialverwaltung verwendet viel Zeit, Energie und Intelligenz darauf, es anzupassen und am Laufen zu halten. Das beginnt beim Ausfiltern der Kandidaten, die antreten dürfen, und endet erst nach Bekanntgabe der amtlichen Ergebnisse. Wenn alles gut läuft, können mit einem Viertel der Wählerstimmen Dreiviertelmehrheiten produziert werden, wie bei den Parlamentswahlen 2016. Dabei handelt es sich bei diesem Viertel überwiegend um Polizisten, Lehrer, Soldaten und Beamte, die mit Druck und Belohnungen mobilisiert werden.

Das Ganze ist zwar sehr aufwendig, hat in der Vergangenheit aber gut funktioniert. Voraussetzung ist jedoch, dass die Mehrheit im Volk zumindest so weit zufrieden ist mit dem Lauf der Dinge, dass sie sich mit dem Betrug abfindet. Diese Zeiten gehen möglicherweise gerade zu Ende.

Die jüngsten Ergebnisse legen nahe, dass die Wähler offenbar einen Weg gefunden haben, selbst unter den Bedingungen der gesteuerten Demokratie zumindest ihren Protest kundzutun, indem sie lieber für die blassen Zählkandidaten stimmen, die von Anfang an als Verlierer ins Rennen geschickt werden, als dass sie ihr Kreuz bei jemandem machen, den der Kreml schon im Voraus zum Sieger erkoren hat.

Die Stimmung zum Kippen gebracht hat die Erhöhung des Renteneintrittsalters um fünf Jahre, die von der Kreml-Partei Einiges Russland dem Parlament vorgelegt worden ist. Seitdem stehen nicht mehr die Auftritte Russlands auf internationaler Bühne im Fokus, sondern die Verhältnisse zu Hause, wo der Lebensstandard seit Jahren sinkt. Seit den Präsidentschaftswahlen im März sind Putins Umfragewerte laut dem staatsnahen Institut FOM von 68 auf 47 Prozent gefallen.

Wie nervös die Führung in Moskau ist, zeigt der abermalige Arrest für den Kreml-Gegner Alexej Nawalny. Er wurde gleich am Ausgang des Gefängnisses erneut festgenommen, nachdem er eine 30-tägige Ordnungshaft verbüßt hatte. Sodann ordnete ein Gericht weitere 20 Tage Arrest an. Zu Wahlen werden Nawalny und andere Kreml-Gegner ohnehin nicht zugelassen. Aber in einer Zeit, in der der Wind sich dreht, möchte man den Mann lieber nicht loslassen, der ihn einfangen könnte.

© SZ vom 26.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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