Bundesfinanzhof:Das Steuerhaus

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Die Urteile des Bundesfinanzhofs sind wegweisend für jeden Steuerzahler. Jetzt wird Deutschlands oberstes Finanzgericht 100 Jahre alt und blickt zurück - auch auf die dunklen Episoden seiner Geschichte.

Von Veronika Wulf

Es sind die Einzelschicksale, die in 100 Jahren in diesem Haus verhandelt wurden, die hervorstechen. Einzelschicksale wie das des ehemaligen jüdischen Bankdirektors Friedrich Milch: Eigentlich hätte ihm in den Dreißigerjahren eine Steuerermäßigung zugestanden, Milch klagte sie vor dem damaligen Reichsfinanzhof (RFH) in München ein. "Das Gesetz war eindeutig damals", sagt Matthias Loose, "aber es gab eine Verwaltungsanweisung, dass das für Juden nicht gilt." Loose ist Richter am heutigen Bundesfinanzhof (BFH), Deutschlands höchstem Gericht für alle Steuer- und Zollfragen. Zum 100. Geburtstag dieser weltweit ziemlich einmaligen Institution hat er gemeinsam mit zwei Kollegen die Geschichte des Hauses für eine Ausstellung aufgearbeitet.

Der Fall Milch, den Loose dafür unter anderem nachrecherchiert hat, führt eindrucksvoll vor Augen, wie tief greifend die vermeintlich technische Materie Steuerrecht das Leben der Bürger umkrempeln kann. Damals schaltete sich das Reichsfinanzministerium ein: Die Anweisung aus Berlin stehe über dem Gesetz, ließ man das Gericht in München wissen. "Und was hat der RFH daraus gemacht? Copy and paste", sagt Loose. Die Judikative übernahm die Formulierung der Exekutive. Unabhängig war der RFH spätestens damit nicht mehr. Und noch etwas ist Loose aufgefallen: "In den Formulierungen steht immer nur: 'der Jude Milch'", sagt er. Diese Diskriminierung schwarz auf weiß in den Akten zu lesen sei noch mal "etwas ganz anderes", als durch Berichte oder Filme darüber zu erfahren.

Heute hat der BFH elf Senate mit insgesamt 59 Richtern. Er macht selten so große Schlagzeilen wie seine Brüder, der Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, das Bundessozialgericht und das Bundesarbeitsgericht. Hier geht es nicht um Mord, milliardenschwere Bauvorhaben oder Hartz IV, sondern um Zölle, Körperschaftsteuern oder Personengesellschaften. Meistens sind die Betroffenen Unternehmen, "die gewinnen mal, die verlieren mal", sagt Christoph Wäger, ebenfalls Richter am BFH und zudem Pressesprecher des Gerichts. Doch auch wenn es keine menschlichen Tragödien sind, die hier verhandelt werden, so betreffen viele Entscheidungen doch sehr viele Bürger sehr direkt: wenn sie ihre Steuererklärung machen. Etwa das Urteil, wonach die Kosten für eine Scheidung nicht mehr abgesetzt werden können. Oder die Entscheidung, dass die Ausgaben für einen privat bestellten Streudienst vor der eigenen Haustür als haushaltsnahe Dienstleistung verbucht werden dürfen. Und auch die Entscheidungen zum Arbeitszimmer oder zur Pendlerpauschale betreffen noch immer Millionen Steuerzahler.

Einst der unvollendete Prachtbau eines pleitegegangenen Fabrikanten, seit 1921 Sitz des obersten deutschen Finanzgerichts: das Fleischerschlösschen im Münchner Villenviertel Bogenhausen. (Foto: Catherina Hess)

Es sind aber Geschichten wie die von Friedrich Milch, die zeigen, dass der Bundesfinanzhof und der Reichsfinanzhof in den vergangenen 100 Jahren eben nicht nur Urteile produziert und revidiert haben. Dass hier nicht nur Karrieren befördert und beendet wurden. Sondern dass die Geschichte dieses höchsten Finanzgerichts auch die politischen Entwicklungen und ihre Einflüsse auf die Justiz spiegelt: angefangen als Grundstein einer unabhängigen Finanzjustiz in der entstehenden Demokratie, fortgesetzt als Instrument nationalsozialistischer Unrechtsprechung, bis hin zum heutigen Bundesgericht, eingeflochten ins europäische Recht.

Der BFH von heute ist eines von fünf obersten Gerichten Deutschlands. Zum Jubiläum sind der Bundespräsident und die Bundesjustizministerin eingeladen, eine Festschrift mit fast 2000 Seiten wurde gedruckt, die man schon vor ihrem Erscheinen für 350 Euro bei Amazon vorbestellen kann. Außerdem öffnet das Gebäude des BFH, ein neubarocker Koloss mit Ecktürmen im noblen Münchner Stadtteil Bogenhausen, ausnahmsweise seine Tore für Besucher, die dort noch bis Mitte Dezember die kleine Ausstellung besuchen können, die Loose und seine Kollegen erarbeitet haben: Schaurahmen, Bilder, Gebäudepläne und der Dienstrock des ersten Gerichtspräsidenten mit dazugehörigem Degen sollen einen Überblick geben über die Vergangenheit des Gerichts.

Die Macher der Ausstellung wollen eine Debatte anstoßen

Und die war nicht nur während des Nationalsozialismus bewegt. Schon die Gründung 1918 fiel in eine Zeit voller Umwälzungen: das Ende des Ersten Weltkriegs, die Ausrufung der Republik, das Wahlrecht für Frauen. Damals brauchte das Deutsche Reich Geld, vier Jahre Krieg hatten große Löcher in die Staatskassen gerissen. Also wurde, gerade noch unter Kaiser Wilhelm II., als erste nationale Steuer eine Abgabe auf alle Umsätze eingeführt: die Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer. Sie lag zu Beginn noch bei winzigen 0,5 Prozent und stieg in den folgenden Jahrzehnten immer weiter an. "Wenn eine neue Steuer eingeführt wird, dann dürfen die Bürger nicht schutzlos dastehen", sagt Rudolf Mellinghoff, der Präsident des BFH, in seinem Büro mit halbrundem Erker. Also wurde der RFH gegründet, zunächst mit zwei Senaten, doch es wurden bald mehr.

Auf der Suche nach einem Ort für das neue Gericht, stieß man auf jenes Grundstück am Rande einer Parkanlage, auf dem der BFH noch heute residiert. Um die Jahrhundertwende hatte sich dort der Farbenfabrikant und Kunstmaler Philipp Fleischer ein Schloss bauen lassen wollen. Er beauftragte den renommierten Architekten Max Littmann; 100 Meter Frontfassade, ein Extrazimmer für das Silberbesteck. Dann ging Fleischer pleite, der Bau blieb unvollendet. Der Staat kaufte Grundstück und Ruine, ließ sie umbauen und brachte dort von 1921 an den RFH unter.

Für die Ausstellung hat Matthias Loose das Gebäude aus 17 500 Lego-Steinen nachgebaut, gemeinsam mit seinem Sohn. Manche der Teile ließ er dafür extra anfertigen, andere aus dem Ausland liefern. Orientieren konnte er sich dabei an den historischen Plänen. Sie sind jetzt in einem der hohen Räume mit der stuckbesetzten Decke ausgestellt, früher war es das Musikzimmer der RFH-Präsidenten, als diese noch im Gebäude wohnten.

In den Räumen davor hängen Porträts wichtiger Persönlichkeiten des Gerichts, auch sie ein Spiegel des Wandels der Institution: Gustav Jahn beispielsweise, der erste Präsident des RFH, ließ sich jeden Monat von seinen Mitarbeitern schriftlich über den Stand ihrer Arbeit berichten, wie er in seiner 1000-seitigen, handgeschriebenen Biografie berichtete. Oder Herbert Dorn, der das Doppelbesteuerungsabkommen maßgeblich mitprägte und der 1931 noch mit einer in Schnörkelschrift-Urkunde von Reichspräsident Paul von Hindenburg als RFH-Präsident berufen wurde - nur um kaum drei Jahre später mit einem schmucklosen Schreiben entlassen zu werden, weil er Jude war. Und Ruth Hofmann, die 1976 als erste Richterin an den BFH kam, der bis heute noch überwiegend männlich dominiert ist.

Ein Porträt, das nicht in der Ausstellung hängt, ist das von Ludwig Mirre. Mellinghoff erzählt seine Geschichte in seinem Büro: Mirre schaffte es 1935 zum RFH-Präsidenten, nachdem er vorher an der Spitze des Münchner Finanzministeriums gestanden hatte. Dort bekam er es mit einem hartnäckigen Fall zu tun: Ein gewisser Adolf Hitler hatte an seinem Buch "Mein Kampf" zwar sehr gut verdient, zahlte aber keine Steuern. Das sei schon in Ordnung, entschied Mirre mit, wegen der "staatsrechtlichen Stellung von Herrn Hitler", wie Mellinghoff erzählt. Als Belohnung wurde Mirre nicht nur RFH-Präsident, sondern bekam bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs neben seinem regulären Gehalt noch ein ordentliches Extrasalär - steuerfrei.

Nachdem das Grundgesetz in Kraft getreten war, nahm der BFH 1950 als erstes der fünf obersten Gerichte seine Arbeit wieder auf, mit 19 Richtern. "Davon waren bereits sieben Richter vorher am Reichsfinanzhof", sagt Richter Michael Geissler, der diesen Teil der Ausstellung mit konzipiert hat. "Einige von denen waren auch Mitglied der NSDAP."

Eine grundlegende Aufarbeitung der Nazi-Zeit und ihrer Nachwirkungen sei die Ausstellung aber nicht, sagt Geissler. "Wir haben keine Bewertungen der einzelnen Richter vornehmen wollen." Als "Richter und Mitglieder dieses Hauses" sähen er und seine Kollegen sich nicht dazu berufen, über ihre Vorgänger zu urteilen. Die Ausstellung solle aber eine Diskussion anstoßen. "Und vielleicht wird es irgendwann mal auch Geld für derartige Untersuchungen geben."

© SZ vom 29.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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