Jazz:Die sehr erträgliche Lässigkeit des Lebens

Musik beim Lesen: In seiner Autobiografie ist dem Pianisten Herbie Hancock der Jazz wichtiger als Drama.

Von Andrian Kreye

Der eigentliche Reiz einer Musikerbiografie ist, dass beim Lesen vor dem inneren Ohr die eigene Plattensammlung mit neuem Leben erfüllt wird. Zur eigenen emotionalen Lebensgeschichte kommt die faktische des Musikers zur musikalischen Erinnerung dazu. Das ist Mehrwert, auch wenn das voraussetzt, dass man mit dem Gesamtwerk der Hauptperson vertraut ist. Was auch aus Jazzbiografien in den meisten Fällen Fanliteratur macht.

Es gibt Ausnahmen. Charles Mingus' "Beneath the Underdog" ging als literarisches Dokument der Bürgerrechtsära in den Kanon ein. Miles Davis' "Miles" überwältigte Leser mit der brutalen Wucht seiner Persönlichkeit. Herbie Hancocks Autobiografie "Möglichkeiten" fällt ziemlich genau zwischen die Fanbücher und großen Lebensgeschichten. Was auch mit der Ghostwriter-Besetzung zu tun hat.

Charles Mingus arbeitete mit dem Titan des Bürgerrechtsjournalismus Louis Lomax, um sein Rohmanuskript von 1500 zu literarisch hochwertigen 300 Seiten zu verdichten. Miles Davis' Erinnerungswutanfälle wurden vom Dichter und "Black Arts Movement"-Pionier Quincy Troupe protokolliert und in eine rasante Schimpfwort-Kaskade verwandelt. Herbie Hancock verfasste sein Buch zusammen mit Lisa Dickey, einer Dame aus Pensacola, Florida, deren Berufsbezeichnung Wikipedia mit "book collaborator" angibt. Als solche Buchzusammenarbeiterin hat sie schon so unterschiedliche Themen wie die ökonomischen Mechanismen der digitalen Industrie, die Erfahrungen einer amerikanischen Geisel in Nordkorea, sowie die Lebensgeschichten von Patrick Swayze und Whitney Houstons Mutter Cissy in lesbare Formen gebracht.

Deswegen spürt man in jeder Zeile, dass da sehr wahrscheinlich Erinnerungsmonologe unter professioneller Anleitung aufgezeichnet und verschriftet wurden. Und deswegen folgt Hancocks Buch auch brav dem üblichen Schema afroamerikanischer Biografien. Also - erste Begegnungen mit Rassismus und wirtschaftlicher Diskriminierung in der Kindheit, Lehrjahre, Aufstieg, Drogensucht, Fall, Wiederauferstehung, altersweiser Blick auf die Welt.

In vielen Fällen, bei den Biografien von Disco-Pionier und Chic-Gründer Nile Rogers oder Schwergewichtsboxweltmeister Mike Tyson etwa, sind die ersten Kapitel dann so berührend und dramatisch, dass ihr Aufstieg in die erste Liga der Gesellschaft bald an Spannung verliert. Herbie Hancock umschifft dieses Dilemma damit, dass er die Widrigkeiten seines Lebens (ob kalkuliert oder ehrlich) eher lapidar und mit der rosa Brille des unerschütterlichen Optimisten abhandelt. Er verschenkt da sicher einiges an Drama.

HERBIE HANCOCK BEI JAZZ FESTIVAL

Herbie Hancock, 78, schrieb als junger Jazzpianist Welthits wie „Watermelon Man“ und „Canteloupe Island“ und wurde bei Miles Davis zum Erneuer seines Instruments. Bis heute bleibt er im Studio und auf Tour am Puls der Zeit.

(Foto: DPA)

Nur selten lässt er die finstere Seite der amerikanischen Realität zu. An der Stelle zum Beispiel, an der er 1955 in seiner Heimatstadt Chicago an jenem Bestattungsinstitut vorbeikommt, in dem der Leichnam von Emmett Till aufgebahrt wurde. Till war damals 14, ein Jahr jünger als Hancock und aus dem gleichen Viertel. Während Sommerferien bei Verwandten in Mississippi wurde er von Rassisten ermordet wurde, weil er einer weißen Verkäuferin hinterhergepfiffen hatte.

Der Mord war ein Schlüsselmoment der Bürgerrechtsära. Hancock beschreibt wie er erst die zutiefst verstörten Menschen sah, die aus der Aufbahrungshalle kamen, und wie ihn selbst dann ein Zeitschriftenbild des entstellten Leichnams mit Horror erfüllte. Da blitzt über wenige Seiten dieses Lebensgefühl der permanenten Bedrohung auf, das weiße Amerikaner kaum nachempfinden können und Europäer schon gar nicht.

Auf der anderen Seite wuchs Herbie Hancock in einer stabilen, kleinbürgerlichen Familie auf, die ihm ein Klavier kaufte und klassischen Unterricht bezahlte. Die Beiläufigkeit des afroamerikanischen Dramas öffnet das Buch für die buchstäblich weltbewegenden Veränderungen in der Musik des 20. Jahrhunderts, an denen Herbie Hancock beteiligt war. Am Aufbruch in den modalen Jazz mit Miles Davis, in die Befreiungsmomente des Funk mit seiner Band The Headhunters, in die höheren Sphären der Genre-übergreifenden Klaviermusik, oder in den Hip-Hop mit seinem 1983er-Welthit "Rockit".

Wenn er zum Beispiel beschreibt, wie ihm Miles Davis 1963 fast ohne Worte den musikalischen Horizont ins Unermessliche erweiterte, weil er ihm sagte, er solle weniger "Buttertöne" spielen. Was vielleicht auch ein Missverständnis war, weil Davis' heiseres Nuscheln auch "Basstöne" hätte bedeuten können. Was dann im Endeffekt egal war, weil der junge Hancock nur aus diesem einen Satz ein vollkommen neues Harmonieverständnis ableitete, das aus ihm einen Erneuerer des Jazzklaviers machen sollte. Da jedenfalls bekommt man über Seiten hinweg einen wunderbar detaillierten Einblick in die Feinmechanik des Jazz.

Jazz: Herbie Hancock mit Lisa Dickey: Möglichkeiten: Die Autobiografie. Aus dem Englischen von Alan Tepper. Hannibal Verlag, Wien, 2018. 376 Seiten, 28 Euro.

Herbie Hancock mit Lisa Dickey: Möglichkeiten: Die Autobiografie. Aus dem Englischen von Alan Tepper. Hannibal Verlag, Wien, 2018. 376 Seiten, 28 Euro.

Deswegen macht es dieses handwerklich und sprachlich mittelmäßige eben zu einem grandiosen Buch, wenn beim Lesen die Musik im Kopf mitspielt. Wenn man die explosive Kraft des Miles Davis Quintet parat hat. Wenn einem die Blaupausen des Funk wie "Actual Proof" und "Chameleon" geläufig sind. Wenn man nicht nur versteht, sondern schon gehört hat, warum der Pianist Herbie Hancock und die Folk-Lyrikerin Joni Mitchell eine so perfekte musikalische Ergänzung waren.

Hancocks lapidarer Blick auf die - zugegeben wenigen - Abgründe seines Leben wirkt im Mittelteil dann regelrecht erlösend. Wenn er nämlich aus seinen Problemen mit dem Kokain eine lästige Angelegenheit und keine subkulturell aufgeladene Tragödie macht. Wenig ist langweiliger als die Weinerlichkeiten des Junkie-Lebens. Hancock schönt da nichts, aber es ist eher ein Problem der Arbeitsabläufe in Hollywood, wo er zu der Zeit schon erfolgreich Filmmusiken schreibt, als ein großes Thema.

Viele wichtiger ist ihm da seine spirituelle Sinnsuche, die ihn zum Buddhismus führte. Aber auch das ist nur ein Hintergrundmotiv für seine vor allem musikalische Autobiografie. Seine spirituelle Reise hat er gerade mit seinem Weggefährten, dem Saxofonisten Wayne Shorter, in einem Band voll Dreiergespräche mit dem buddhistischen Philosophen und japanischen Friedensadvokat Daisaku Ikeda verarbeitet. Auch das erscheint in diesem Herbst auf Deutsch. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

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