Hype um "Die Eiskönigin":Die Anna-und-Elsa-Formel

Frozen

Auch ein Film über weibliche Solidarität: die Schwestern Elsa und Anna.

(Foto: Disney)
  • Disneys "Die Eiskönigin" aus dem Jahr 2013 ist der erfolgreichste Animationsfilm überhaupt.
  • Seine beiden Hauptcharaktere Elsa und Anna schmücken weltweit Bettwäsche, Zahnpastatuben und Strumpfhosen.
  • "Die Eiskönigin" ist ein Film über die Liebe, aber nicht im klassischen Sinn. Sein außergewöhnlicher Erfolg liegt im Song "Let It Go" begründet.

Von Martin Wittmann

"Der Schnee glänzt weiß auf den Bergen heut Nacht". Mit dieser Zeile beginnt die deutsche Version von "Let It Go", dem populärsten Lied aus dem Film "Die Eiskönigin - Völlig unverfroren". Mit dieser Zeile beginnt auch bei uns oft der Tag. Helene Fischer singt sie. Ausgerechnet.

Zum Glück hören wir "Lass jetzt los" noch öfter in der Interpretation unserer fünf Jahre alten Tochter. Morgens im Bad etwa, nach dem Zähneputzen; auf den Tuben von uns Eltern steht Aronal und Elmex, auf ihrer stehen Anna und Elsa. Oder tagsüber, wenn sie dazu in einer Strumpfhose herumtanzt, auf der die beiden Heldinnen des Films jeweils ein Bein schmücken. Oder abends, bevor sie mit ihnen einschläft, denn auch auf der Bettwäsche im Kinderzimmer sind die Schwestern abgebildet. Anna und Elsa gehören zu uns. Oder, wer es lieber kulturkritisch mag: Wir gehören ihnen.

Wer noch nie vom "weiß glänzenden Schnee in den Bergen heut Nacht" gehört hat, muss wissen: "Frozen", wie der Titel im Original lautet, ist ein Animationsfilm aus dem Jahr 2013, dessen Handlung ganz grob auf dem Märchen "Die Schneekönigin" von Hans Christian Andersen basiert. Irgendwann landete der Film auch bei uns im Wohnzimmer, und unsere Tochter war hingerissen. Das ist sie bei vielen Filmen, oft nur deswegen, weil es Filme sind. Die Begeisterung für den einen wird abgelöst von der für den nächsten. Aber bei Anna und Elsa ist es anders. "Die Eiskönigin" hält sich, nicht nur bei ihr, sondern auch bei vielen ihrer Freundinnen und, schaut man sich auf Reisen und im Internet um, tatsächlich auf der ganzen Welt.

Wie kann es sein, dass ein Film bei Kindern so viel stärker und nachhaltiger wirkt als alle anderen? Was hat "Die Eiskönigin", was andere nicht haben? Die Tochter antwortet: Blöde Frage, Papa, in echt jetzt. Die Disney-Leute in den USA antworten: Gute Frage, aber leider sind alle Beteiligten beschäftigt mit der Produktion des zweiten Teils, der 2019 in die Kinos kommen wird. Man muss die Anna-und-Elsa-Formel woanders suchen.

"Die Eiskönigin" ist selbst für Disney eine Ausnahmeerscheinung

Vielleicht fängt man am besten bei jemandem an, der die Sachen auf den Punkt zu bringen versteht. Max Ackermann lehrt Verbale Kommunikation. An der TH Nürnberg forscht er zudem über Storytelling, Drehbücher und narratives Design, und zu Hause hat er zwei "Eiskönigin"-kundige Töchter. Sein Formelvorschlag: "Retro plus Moderne plus Kinder plus Erwachsene plus Professionalität."

Retro heißt, dass es hier um Prinzessinnen geht, die in schönen Kleidern durch Schlösser tanzen und dazu Musical-Nummern singen. Im Vergleich zu früheren Werken sind die Prinzessinnen aber moderner, sprich: emanzipierter. Von Elsas übernatürlichen Kräften sind die Kinder auch fasziniert, weil sie Magie als Instrument ersehnter Selbstermächtigung begreifen, auch gegenüber Erwachsenen. Die hingegen finden die politischen Botschaften des Films spannend: Macht macht einsam. Als letzte Variable nennt Ackermann die Disney-Studios, ob ihrer Erfahrung, ihrer Professionalität und ihres Geschäftssinns.

So einfach ist das also.

"So einfach ist das leider nicht. Dafür gibt es zu viele Unwägbarkeiten", sagt Ackermann. Eine Einschränkung wäre schon mal: Die Disney-Studios dominieren allerspätestens seit 2006, seit sie den kreativeren Konkurrenten Pixar übernommen haben, den Animationsfilm.

Was sie anpacken, wird zu Gold, das heller glänzt als jeder Bergschnee. Aber "Die Eiskönigin" ist selbst für Disney eine Ausnahmeerscheinung: Er ist der erfolgreichste Animationsfilm überhaupt, hat seit 2013 mehr als eine Milliarde Euro eingespielt. Würde Disney das eigene Anna-und-Elsa-Geheimnis kennen, würde der Konzern nicht Filme wie "Vaiana" machen, der drei Jahre später nur die Hälfte des "Eiskönigin"-Geldes einspielte, trotz der gewohnt gnadenlosen Vermarktung und des technischen Aufwands.

Was also macht "Die Eiskönigin" so besonders? Jürgen Schopper lehrt in Nürnberg "Film und Animation", außerdem ist er Creative Director bei der ARRI Media GmbH. Er beantwortet die Frage mit "Erst mal nichts." Für ihn sieht die Geschichte von der "Eiskönigin" zunächst auch nur aus wie eine klassische Heldenreise, wie sie vielen Mythen und auch modernen Abenteuergeschichten zugrunde liegt: Der Protagonist begibt sich auf eine Mission, trifft Figuren, die sich ihm anschließen und seine Freunde werden, er muss Herausforderungen meistern, ihm wird der Weg gewiesen.

Aber es gebe, sagt Schopper, auch entscheidende Unterschiede zu traditionellen Heldenreisen: Der Held ist kein Draufgänger oder Prinz, sondern eine junge Frau, Anna, die ihre Schwester sucht. Diese wiederum wartet nicht wie in traditionellen Erzählungen passiv auf Rettung, sondern lebt in einem selbst gewählten Exil. Elsas Geschichte bekommt viel Platz im Drehbuch, das ist selten bei isolierten Figuren. Sie will ihre Ruhe haben. In "Lass jetzt los" singt sie: "Und ich schlag die Türen zu." "Das kennen Kinder doch von sich selbst, wenn sie sauer ins Zimmer gehen", sagt Schopper. Die Zuschauer wollen sich mit den Hauptfiguren identifizieren. Mädchen wollen heute Elsa sein.

Die Einsiedlerin Elsa ist überraschend beliebt beim Publikum. Nach Erscheinen des Films verkaufte Walmart mehr Puppen von Elsa als von Anna - insgesamt überholte "Die Eiskönigin" 2014 "Barbie" als erfolgreichste Spielzeuglizenzmarke für Mädchen. Viele amerikanische Eltern haben ihren neugeborenen Töchtern den Namen der Eiskönigin gegeben: 2013 noch belegte Elsa auf der Hitliste der Mädchennamen Platz 527, ein Jahr später war es Platz 286.

Dass auch mein Kind so verrückt nach der eisigen Prinzessin mit den magischen Kräften ist, wäre übrigens eine gute Nachricht, wenn wir einen Sohn hätten. Eine Studie der amerikanischen Brigham Young University aus dem Jahr 2016 belegt, dass Jungen von der Beschäftigung mit Prinzessinnen profitieren - sie werden empathischer, selbstbewusster und bekommen ein besseres Körpergefühl. Bei Mädchen hingegen verstärkt sich durch ausgiebige Schwärmerei für Prinzessinnen eher stereotypes Verhalten: Sie machen sich weniger gern dreckig, probieren seltener neue Dinge aus und trauen sich in Mathe und Naturwissenschaften weniger zu.

Eine grundfeministische Botschaft

Doch es gibt auch Hoffnung: "Prinzessinnen-Filme sind aus feministischer Sicht nicht nur kritisch zu sehen", sagt Beatrice Frasl. "In den dargestellten fiktionalen Gesellschaften sind gerade sie mit überdurchschnittlich viel Macht ausgestattet." Frasl forscht an der Uni Wien zu Film, Gender und eben Disney-Prinzessinnen. Sie sieht drei Phasen von Disney-Prinzessinnenfilmen. Die klassische Phase bis zu Walt Disneys Tod 1966 mit "Schneewittchen"; die postfeministische in den 90er-Jahren mit "Pocahontas" und anderen, die den damaligen Girl-Power-Narrativen folgte; und die Disney-Filme seit 2000, die Frasl als profeministisch einstuft.

Im Mai 2015 gab es bereits einen ähnlich akademischen Versuch, den Erfolg der Eiskönigin zu ergründen: das "Symfrozium", eine Konferenz an der University of East Anglia im britischen Norwich. Die einen Wissenschaftler verglichen Elsa mit gefährlichen Superheldinnen wie Catwoman, andere hatten erforscht, wie der Film bei Magersüchtigen ankommt: Manche Patienten sehen in "Lass jetzt los" eine Inspiration, die Krankheit hinter sich zu lassen; manche fühlten sich hingegen bestätigt, schließlich wird in dem ganzen Film nicht gegessen und selbst an der Schokolade nur geschnuppert. Außerdem ein großes Thema auf der Konferenz: Elsas Sexualität.

Amy Davis von der Universität im britischen Hull hat an der Konferenz teilgenommen. Sie ist Autorin des Buchs "Good Girls and Wicked Witches" ("Gute Mädchen und böse Hexen"). Frage an Amy Davis: Ist Elsa womöglich homosexuell? Schließlich fordern viele Twitter-Nutzer mit dem Hashtag #GiveElsaAGirlfriend die Filmemacher dazu auf, die Prinzessin in der Fortsetzung offen lesbisch sein zu lassen.

"Die Eiskönigin" ist ein Film über die Liebe, aber nicht im klassischen Sinn

Ein Seufzer am anderen Ende der Leitung. "Ihre Reise hat nichts mit ihrer Sexualität zu tun. Ich verstehe nicht, warum die Leute ihr eine romantische Seite aufdrücken wollen." Davis hat dafür nur eine Erklärung: Die Forderung nach sexueller Diversität in einem Disney-Blockbuster ist dem Zeitgeist geschuldet. Elsa bietet da eine Projektionsfläche. Der Film hat, ob er will oder nicht, ein gutes Timing. Die Welt hat auf ihn gewartet.

Davis holt aus: Lange dachte Hollywood, dass weibliche Hauptfiguren nur in Komödien funktionieren; aber "Die Eiskönigin" und später auch "Wonder Woman" haben der männlich dominierten Branche bewiesen, wie erfolgreich echte Heldinnen sein können. Es schadete nicht, dass zum ersten Mal bei einem großen Disney-Animationsfilm eine Frau Co-Regie führte, Jennifer Lee. Eine Geschichte über Frauen wird nun mal besser von Frauen erzählt. Zumal der Film weibliche Solidarität thematisiert, es geht um Frauen, die nicht in Konkurrenz zueinander stehen. Das ist neu. In "Schneewittchen" etwa haben die Protagonistinnen auch eine Verbindung zueinander, aber sie sind verfeindet.

"Die Eiskönigin" ist ein Film über die Liebe, aber nicht im klassischen Sinn. Die grundfeministische Botschaft des Films, laut Davis: Frauen können auch ohne romantische Liebe glücklich sein. Anna etwa verliebt und verlobt sich so schnell wie keine Disney-Figur vor ihr, sie bekommt ihren Prinzen - aber es klappt nicht. Später tauchen andere Arten der Liebe auf. Der Eishändler Kristoff sagt irgendwann den Satz: "Eis ist mein Leben." Der Schneemann Olaf liebt ganz grundsätzlich Umarmungen. Und ganz am Ende siegt die Liebe zwischen Geschwistern. Die können auch Kinder verstehen. Oder wie die Prinzessinnen-Expertin Frasl es erklärt: "Ihre fünfjährige Tochter macht sich vermutlich mehr Gedanken über platonische Beziehungen als über den Märchenprinzen."

So scheint die Suche nach der Erfolgsformel des Films mit der wahren Liebe, aber ohne echten Erfolg zu enden - würde dem ratlosen Vater nicht auf einmal, beinahe wie in einer Heldenreise, doch noch ein Weg gewiesen. Ob ihr der Film überhaupt gefalle, fragt man Amy Davis nach dem Interview noch. "Anfangs mochte ich ihn nicht. Wegen des verdammten Songs. Er war damals überall zu hören. Sie wissen sicher, dass Elsa in der Produktion erst durch dieses Lied zur Heldin geworden ist, oder?" Natürlich, sagt man, um sich danach schleunigst die entsprechende Lektüre zu holen.

Charles Duhigg erzählt in seinem Buch "Smarter Faster Better" das eigentliche Märchen: die Geschichte von "Let It Go". Als der Song geschrieben wurde, lief die Produktion des Films bereits, und sie lief nicht besonders gut. Die Zeit drängte, die Story aber war noch löchrig, die Figur der Anna galt als zu verklemmt, ihre Schwester als zu diabolisch. Elsa war die böse Hexe des Films.

Kristen Anderson-Lopez und ihr Mann Robert Lopez sollten Songs für den Film schreiben. Weil das Drehbuch immer wieder umgeworfen wurde, hatte das Paar bereits mehrere Lieder wegwerfen müssen, es war frustrierend. Eines Tages gingen die beiden im Prospect Park in Brooklyn spazieren und sprachen über Elsa. Wie würde es sich anfühlen, das ganze Leben lang zu versuchen, alles richtig zu machen, nur um am Ende doch immer dem Urteil anderer Menschen zu unterliegen?

Kristen Anderson-Lopez selbst kannte das Gefühl: Sie wollte beruflich erfolgreich und gleichzeitig eine gute Mutter sein. Das war fordernd, sie spürte die Blicke anderer Eltern, wenn sie ihre Töchter im Restaurant mal mit dem iPad spielen ließ. Deshalb wollte die Komponistin auf keinen Fall, dass Elsa sich entschuldigte. Sie wollte für sie ein Lied schreiben, das vom Perfektionsdruck handelte und von der Befreiung davon. Noch im Park sang sie den Refrain. Auch hier: gutes Timing für eine Welt, in der die Kosten der Selbstoptimierung vielen Menschen auf die Brust drücken.

Das Paar nahm daheim sofort eine Skizze des Liedes auf und überzeugte damit die "Eiskönigin"-Macher. Wegen des Liedes wurde das Drehbuch umgeschrieben, die Geschichte bekam eine völlig neue Richtung. Elsa wurde von der bösen zur guten Hexe, keine einfache Prinzessin, sondern eine komplizierte Heldin. Und das Ehepaar Lopez bekam einen Oscar und einen Grammy.

Amy Davis noch mal: "Ich verstehe, was Kindern an dem Lied gefällt. Ich bin selber ausgebildete Sängerin. Man kann den Refrain gut herausschreien. Das ist vor allem für Mädchen befreiend, die immer direkt oder indirekt vermittelt bekommen, sie sollen sich zurückhalten."

Das Lied. Nun fällt einem auch auf, dass der Film unsere Tochter an "Lass jetzt los" zu erinnern scheint und nicht andersherum. Dass sie selten Elsa spielt, aber oft vom weiß glänzenden Schnee singt. Es mag also keine alles erklärende Anna-und-Elsa-Formel geben, aber es kann gut sein, dass unsere Tochter nicht wie befürchtet auf Prinzessinnen steht. Sondern auf Helene Fischer.

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