Theater:Zu viel Schwein

Die Hauptstadt Schauspiel Essen

Die Hauptstadt Schauspiel Essen Daniel Christensen in der Deutschen Erstaufführung 'Die Hauptstadt' nach dem Roman von Robert Menasse; Inszenierung und Bühnenfassung von Hermann Schmidt-Rahmer; Daniel Christensen Foto: Martin Kaufhold

(Foto: Martin Kaufhold)

EU-Karrieren und EU-Affären: Herrmann Schmidt-Rahmer inszeniert in Essen Robert Menasses "Hauptstadt"-Roman.

Von Cornelia Fiedler

Gegen Nationalismus gibt es ein Mittel, da ist sich der Schriftsteller Robert Menasse sicher. Wir haben es längst, oder hätten es, wenn wir nicht immer so vergesslich wären. Es heißt Europa. Ein Europa, das sich daran erinnert, aus welcher Not heraus es gegründet wurde, daran, dass die Schaffung einer Union nach zwei Weltkriegen helfen sollte, "die verfeindeten Nationen nachhaltig auszusöhnen und den Nationalismus zu überwinden". So hat es Menasse zuletzt im März in seiner Rede zum 60. Jubiläum der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft formuliert. Diese Idee durchzieht auch seinen Brüssel-Roman "Die Hauptstadt", für den er 2017 den Deutschen Buchpreis erhielt. Jetzt ist Menasses literarisch-politischer Rundumschlag am Theater Essen auf der Bühne zu sehen, doch die deutsche Erstaufführung bekommt den Roman in seiner Komplexität nicht zu fassen.

Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer, bekannt für forsches Polittheater wie die Bochumer Ibsen-Überschreibung "Volksverräter" von 2017, tappt in eine klassische Falle der Romanadaption: Er will zu viel erzählen. Er will allen Einzelschicksalen des verwobenen Plots um Brüsseler EU-Karrieren und -affären, um Lobbyismus, eine entgleiste Imagekampagne, verhinderte Mordermittlungen und die letzten Tage eines Shoah-Überlebenden gerecht werden. Das aber macht die Inszenierung unübersichtlich und reproduziert letztlich vor allem gängige EU-Klischees.

Naheliegend, aber unpassend ist auch, dass Schmidt-Rahmer und der Bühnenbildner Thilo Reuther eine absurde Nebenhandlung des Romans zur zentralen Metapher des Abends aufblähen: das entlaufene Schwein, das im vor Hitze glühenden Brüssel hier und da wie eine Fata Morgana auftaucht. In Essen springt nun nicht nur ein Schauspieler mit Schweinemaske über die Bühne, es regnet projizierte Gummi-schweine, Youtube-Filme von realen Nazi-Übergriffen werden als Videobeweis für Schweine-Sichtungen präsentiert, und am Ende durchbricht ein riesiger Schweinekopf die schräge Spielfläche. Spätestens, wenn vor diesem Schlussbild dann Ines Krug als der Auschwitz-Überlebende David de Vriend über die Bühne irrt und schließlich beim Anschlag in der U-Bahn- Station Maalbeek stirbt, hat die Inszenierung ihre Metapher nicht mehr im Griff.

Menasse hat seine "Hauptstadt"-Figuren etwas lehrstückhaft als Personifikationen der politischen Krise der EU konstruiert, allen voran den Wirtschaftswissenschaftler Erhart (Thomas Büchel). Der muss ernüchtert feststellen, dass er, der Verfechter einer postnationalen europäischen Wirtschafts- und Sozialunion, nur als Feigenblatt in den neoliberalen Thinktank "New Pact for Europe" eingeladen wurde. Während dessen politische Reflexionen im Roman manchmal den Plot ausbremsen, ist es auf der Bühne umgekehrt. Bei Erharts Auftritten überwiegt der Slapstick, seine Lehren aus Krieg, Nationalismus und Holocaust rauschen zu verkürzt vorbei. Von Menasses eigener EU-Vision wird allerdings bald wieder mehr zu hören sein: Der Autor will am 10. November in Kooperation mit diversen Theatern, Künstlerinnen und Bürgern von Lissabon über Essen bis Nikosia im "European Balcony Project" eine "Europäische Republik" ausrufen.

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