Porträt:Der diskrete Charme des angewandten Ballardismus

Mark Fisher, Nina Power und Nick Land: Was hat es auf sich mit der Begeisterung vieler Zukunftsphilosophen für J. G. Ballard? Der Prophet der unvollkommenen Zukunft hat heute mehr zu sagen denn je.

Von Cédric Weidmann

J. G. Ballard gilt manchen als der wichtigste britische Autor in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber noch immer wird er von vielen wie ein Geheimtipp behandelt. Dabei sind seine Texte heute längst nicht mehr so skandalös wie noch in den Siebzigern. Zu seinem Unfallporno "Crash" vermerkte seine Lektor damals: "Diesem Autor ist psychologisch nicht mehr zu helfen. Nicht veröffentlichen."

Aber weil er Abseitigkeit und eine gewisse Eleganz kombiniert hat wie niemand vor ihm, lässt er sich leicht zur Galionsfigur einer obskuren Untergrundliteratur stilisieren, die sich als Alternative zum etablierten Diskurs versteht.

Wie sehr sich Ballard für den Gegenkanon eignet, hat in den vergangenen Jahren die philosophische Avantgarde Großbritanniens bewiesen. Aus dem Umfeld der University of Warwick und dem Verlag Urbanomic gehen seit einiger Zeit interessante Gegenwartskonzepte in Serie aus: Akzeleration, Chronopolitik, Spekulativer Realismus, kapitalistischer Realismus oder Hyperstition. Theoretische Schocks, die auf dem Kontinent gerade erst verdaut werden. Die Philosophen dieser Schule - Reza Negarestani, Nina Power und Kodwo Eshun, Mark Fisher, Nick Land - halten vernunftgetriebene Erkenntnisprozesse für unzeitgemäß, sie fordern die technologische Singularität und/oder zeigen an Gangster-Rap, Hypnagogic Pop und BBC-Serien die Nostalgiesucht des Spätkapitalismus auf. Literatur spielt für diese Zukunftsphilosophen so gut wie keine Rolle, mit einer Ausnahme: J. G. Ballard.

Wo ihre Namen fallen, taucht auch Ballard auf, und immer geistert einer seiner Sätze in ihren Texten. Explizit verhandelt wird er aber kaum, er ist stets nur ein Hintergrundgeräusch. Die Verleger von Urbanomic haben nun ein Buch nachgereicht, das diesen eigenartig blinden Fleck erklären möchte: Das Buch heißt "Applied Ballardianism", zu Deutsch also "Angewandter Ballardismus", es stammt von dem Kulturwissenschaftler Simon Sellars, und ist eine Mischung aus intellektueller Autobiografie und Ballard-Exegese, die sich selbst als "Theory-Fiction" bezeichnet.

Sellars, der von sich selbst sagt, "Crash" habe sein Leben verändert, hat einen Großteil seines akademischen Lebens Ballard gewidmet: Er war Herausgeber einer Interview-Sammlung mit Ballard, er hat etliche Ballard-Beiträge in Fachzeitschriften veröffentlicht, er hat in dem Spezialisten-Forum "ballardian.com" mehr als 500 Einträge verfasst und gemessen an den Danksagungen der Warwick-Philosophen ist er deren zentrale Quelle für alles, was Ballard betrifft.

Das Buch ist nun eine Art Autobibliografie, in ballardianisch überdrehtem Stil wickelt Sellars die Lebensgeschichten seiner Lektüren. Und wie bei Ballard, der oft die Protagonisten seiner Romane mit dem eigenen Namen bedacht hat, wird auch hier jede Zuschreibung zum Spiel - Fiction und Non-Fiction, Erzählung und Theorie führen unablässig ineinander über.

Der jugendliche "Sellars" findet Ballard in einem Zeitschriftenregal in Melbourne, Australien, und wird süchtig nach der intellektuellen Science Fiction, die das Unheimliche nicht im Weltraum sucht, sondern einen dahinrottenden "inner space" der Psyche seziert. Künstliche Landschaften stehen in ständigem Kampf mit dem Menschen und bringen zum Vorschein, was er verdrängt. Autobahnbrücken, Starkstromleitungen und Hochhauskomplexe, die bei Ballard wie Naturgewalten auftreten, erlebt Sellars in Melbournes Vorstadt jeden Tag. Ballard wird diesem Teenager zum Propheten, der seine Gegenwart in der Betonwüste aufschlüsselt. In seiner Bewunderung beginnt er, eine Dissertation über ihn zu schreiben, aber als Forscher versagt er schnell. Ballards Texte haben seine Wahrnehmung so infiziert, dass es ihm unmöglich wird, die wissenschaftliche Distanz zu wahren.

Sellars' ganze Welt ist von einem Ballard-Film überzogen. Wo er auch hinsieht, begreift er nur noch, was Ballard schon geschrieben hat. Er flieht aus der Akademie nach Japan und wird Reise-Autor. Von Drogentrips, gewalttätigen Jugendlichen und Paranoia verfolgt, die ihn Ufos sehen und überall seinen "inner space" erahnen lassen, hetzt er über den Globus, ohne noch in den pazifischen Korallenriffen Ballards Betonphilosophie zu entkommen.

Die Fußballtaktik der Holländer, der "Total Football", in dem jeder Spieler wechselnde Rollen übernimmt, liest er als Symptom einer Region, die unter dem Meeresspiegel liegt - längst behandelt von Ballard in "The Drowned World". Webseiten, mit denen man sich in Überwachungskameras auf der Welt einklinken und darauf warten kann, dass etwas passiert - führen nur Ballards Begehren nach der Psychopathologie der Langweile vor. Die antike Stadt Nan Madol im Pazifik - verbindet Ballards und H. P. Lovecrafts Suche nach dem Grauen in der Architektur.

Sellars inszeniert sich als getriebene Existenz, die reihenweise in existenzielle Abgründe schlittert und zwanghaft nach Deutungen sucht. In einem Gebäude in Rotterdam fühlt er sich an Ballards "High Rise" erinnert, aber weiß nicht so recht, warum: "Think", heißt es dann, bevor Sellars in seinem Fundus aus Ballard-Texten kramt, um einen Zusammenhang zu produzieren. Er strampelt sich mit einer Auslegung ab, versucht die Erzählungen mit weiteren zu vergleichen, zieht Schlüsse daraus für den Kapitalismus und verliert das Wissenschaftliche wieder in der Masse von Bezügen, weil ihm Ballard plötzlich viel mehr erklärt hat als das Gebäude, und vielleicht nicht einmal das.

Das Faszinierende an "Applied Ballardianism" ist aber nicht die Auslegung selbst, sondern das Problem Ballard: Das Problem, dass man von etwas zu sehr geprägt sein kann, um es zu erforschen. Dies sei seine Psychopathologie, schreibt Sellars. Aber es ist auch jene seiner Urbanomic-Freunde wie Mark Fisher und Robin Mackay, die er im Dank anführt und deren Philosophie sich ebenfalls von Ballards Einfluss nicht lösen kann, als wäre sie besessen - die ihn aber auch nicht zu deuten vermag.

Stattdessen wendet sie ihn ungebrochen auf ihre Zukunftsszenarien an, was dazu führt, dass diese die Färbung der Siebziger- und Achtzigerjahre bekommen. Ballards Avantgardismus ist deshalb so wichtig für sie, weil er heute schon wieder verschwunden ist und eigentlich schon immer etwas altmodisch war.

Seine exaltierten Geschichten von Betoninseln und Autounfällen sind vordigitale Überbleibsel der Agglomeration, die wie die brutalistische Architektur gerade deshalb chic sind, weil sie überhaupt noch eine Zukunft ausmalen konnten.

Die Begeisterung für Ballard rührt daher, dass er der letzte literarische Avantgardist war, der auf einem anti-amerikanistischem, anti-konsumistischen Kulturpessimismus eine spektakuläre Zukunft bauen konnte. Auch wenn er das Ende seiner Zukunftsvorstellungen selbst konstatiert hat, als er schrieb: "Die Zukunft wird langweilig werden."

Mit ihrer Sehnsucht nach diesem guten, alten Avantgardismus verraten die Zukunftsphilosophen ihre versteckte Nostalgie nach dem Ballard-Moment, wie Sellars freimütig zeigt. Er führt aber auch vor, wie er zu einem ständigen Antrieb werden kann. Angewandter Ballardianismus ist wohl auch der Grund, weshalb Nick Land, die zentrale Kultfigur von Urbanomic, in Schanghai untergetaucht ist, wo Ballard in den Vierzigerjahren aufgewachsen ist. Als würden sich die Anhänger in seinen Windschatten fallen lassen, damit er ihnen nicht mehr in den Nacken atmet.

Sie lassen ihm die Vorfahrt und folgen nach, mit einer Second-Hand-Zukunft im Kofferraum, deren Klarsicht uns schockieren wird, egal wie überholt sie erscheint.

Simon Sellars: Applied Ballardism. Memoir from a parallel Universe. Urbanomic, Windsor Quarry, 2018. 400 Seiten, 18,99 Pfund.

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